Ideeller Körper, leiblicher Geist
Hans F. Geyer: „Physiologie der Kultur“
Von Peter Andreas Brügger, Neue Zürcher Zeitung, 9.9.1985
Was zunächst noch wie eine Geste intellektueller
Selbstbescheidung anmutet, enthüllt sich prompt als der stolze Anspruch auf
Originalität: Zur „gelehrten Abhandlung“ sei es deshalb nicht gekommen,
so erfährt der Leser im Vorwort, weil man sich auf „keine Vorgänger“ habe
stützen können. Keine Vorgänger, nur Anreger, und das eigene philosophische
Werk: dem Schweizer Philosophen Hans F. Geier muss man zum vornherein einen
beachtlichen Mut attestieren, ein hohes mass auch an schöpferischer
Entdeckerlust.
Der erste Eindruck, die erste Ahnung - sie trägen kaum: so
bestätigt es die Lektüre. In diesem Buch wird philosophisches Neuland entdeckt,
mit einer Selbstverständlichkeit und souveränen Gelassenheit, wie es nur selten
vorkommt. Reflektierte Kritik wird geübt an jahrtausendealter Tradition;
Denkgrenzen werden durchbrochen und Brücken geschlagen; die Sprache wird kühn
und kreativ gehandhabt.
Bei der Sprache
Geyers muss man ansetzen, denn es ist der erfinderische Umgang mit Sprache, der
uns am besten auch zur denkerischen Leistung des Autors Zugang verschafft.
Ideeller Körper, abstraktiver Reiz, transzendentale Empfindung:
zunächst eher wunderlich, vielleicht sogar anstössig wirkende „Wortbastarde“.
Die anfängliche Abwehrhaltung weicht indes der Nachdenklichkeit, die
Nachdenklichkeit weicht jener Verwunderung, die betroffen innehält: so könnte es
tatsächlich sein. - Doch was ist es nun, was im Gegensatz zu hergebrachten
Vorstellungen so sein könnte?
Der „psychische Stoffwechsel“ etwa: keine Metapher;
wortwörtliche Wirklichkeit. Die Psyche, die Seele, der Geist, das sind keine
reinen Wesenheiten am Himmel körperloser Existenz. Organisch bedingt und
getragen, in einen leiblichen Verbund integriert, sind es gleichsam
organologische Realitäten. Und der Körper des Menschen ist keineswegs nur
Körper, er hat seine Geschichte, nicht nur eine Natur-, auch eine
Kulturgeschichte. Er ist ideell.
Körper, Seele und Geist bilden keine unverbundene Dreiheit,
stellen vielmehr eine unteilbare Dreieinheit dar. Überhaupt ist nicht zu
trennen, was bisher stets getrennt wurde: Natur und Kultur, Sein und
Bewusstsein, Geist und Materie. Auch die Aufteilung der Wissenschaft in Geistes-
und Naturwissenschaften zeugt von derselben Sichtverengung, vom gleichen
eingleisigen Denken, denn: „Die Untrennbarkeit von Körper und Geist bedeutet,
dass der Körper Geist ist, der Geist Körper, ... “ Auch
Begriffskonstruktionen wie „abstraktiver Reiz“ und „transzendentale
Empfindung“ vermitteln in nuce die gleiche Einsicht.
Eines muss allerdings angemerkt werden: Geyer entfaltet seine
Synthesen, seine Vermittlungen stets im Rahmen einer vorausgesetzten
sprachlichen Widerständigkeit; allein im Kraftfeld opponierender Begriffspaare
entwickelt er die Möglichkeit dialektischer „Aufhebungen“. Natur und
Kultur sind für ihn freilich „ein Geschehen, das wir nur aus Gründen der
Heuristik trennen müssen“. Es stellt sich jedoch die Frage, wie eine im
letzten Grunde wohl doch gegenstandslose Heuristik weiterhin ihren Sinn bewahren
kann.
Überall bei Geyer manifestiert sich die Zusammenschau des
scheinbar Widersprüchlichen, angezeigt durch Wendungen wie: „Kunstnatur“,
„geworfener Werfer“, „aktive Passivität“. Geyers Philosophie
erstrebt die Verbindung von grösstmöglicher Einheit bei grösstmöglicher
Differenziertheit: einseitige Sichtweisen, welche die Welt polarisieren, werden
aufgegeben zugunsten synoptischer Gedankenbilder, die das scheinbar Getrennte in
seiner realen Ungetrenntheit zeigen. Damit aber die Kraft der Vermittlung sich
entfalten kann, müssen die Trennungen immer schon vorausgesetzt werden.
Hans F Geyer sucht das Wagnis eines Denkens, das mit
sprachlichen Mitteln Grenzen sprengen und Brücken schlagen will; er unternimmt
das Wagnis mit Verve. Seine Sprache lehnt sich auf gegen das vermeintlich
Unsagbare; was er zur Entwicklung der Sprache generell vorbringt, lässt sich
auch auf ihn selbst anwenden: „Die Entwicklung der Sprache beruht auf dem
Konflikt von kollektivem Zwang und der individuellen Revolte gegen ihn.“
Durch eine individuelle sprachliche Revolte festgefahrene Denkraster aufbrechen,
Neuland erforschen, Auseinanderliegendes verbinden: Mit einer glücklichen
Kombination von Scharfsinn und Phantasie geht Geyer auf philosophische
Entdeckungsreisen. - Und wie üblich beim Anblick von Terra incognita ist vieles
zugleich mächtig anregend und (noch) wenig verständlich.