Rezensionen der
"Physiologie der Kultur"
Die Philosophie des Leibes (Jaeckle)
Ideeller Körper, leiblicher Geist (Brügger)
"Physiologie der Kultur" (Beringer)
Philosophie der Leiblichkeit (Mächler)

Die Philosophie de Leibes

 

Zur „Physiologie der Kultur“ von Hans F. Geyer

 

Von Erwin Jaeckle

 

Hans F. Geyer wurde im Jahr 1915 in Wädenswil am Zürichsee geboren. Er schloss seine Studien an der heimatlichen Universität bei Eberhard Grisebach ab. Er kärrnerte des Tags in einem Industrieberuf und trat des Nachts in ein Reich ein, das der Siebenundvierzigjährige mit den Gedanken eines philosophischen Lastträgers ahnbar machen sollte. Es ging dem im Zwiesel Gefangenen um das Gedankenexperiment seines Lebens, das unveröffentlicht in den zweitausend Seiten eines auf den dreifachen Umfang hin angelegten Philosophischen Tagebuchs entworfen worden war und von den Theorien des Lebens her zu einer echten Lebensphilosophie durchfinden wollte.

 

Das Unterfangen ging von einem neuen Begriff des psychosomatischen Denkens aus, einem Denken also, das "sich nicht nur im Kopf abspielt, sondern starke und tiefe Wurzeln im ganzen System des Körpers hat". "Die Gedanken, die wir aussprechen, sind die Gedanken unseres Leibes", wurde dieser Lebensarbeit zum gründenden Zuspruch. Der Leib spreche das Wort des Geistes. Das gab andere und neue Masse.

 

Seither sind Geyers Schriften von 1969 bis 1974 auf 1'441 Seiten, sechs Bänden, in Freiburg im Breisgau erschienen. Ihre Titel des Philosophischen Tagebuchs lauten: Von der Natur des Geistes, Arbeit und Schöpfung, Das Kontinuum der Offenbarung, Biologie der Logik, Dialektik der Nacktheit, Gedanken des Leibes über den Leib.

 

Da in der Schweiz wie anderswo der Geist nicht, wie Johannes meinte, weht, wo er will, sondern sitzt - auf Lehrstühlen -, wurde dieses Werk eines Aussenseiters kaum zur Kenntnis genommen. So wäre es denn an der Zeit, dass man heute - nach einer elfjährigen Pause also - die gesamte Leistung zu würdigen unternähme. Der Anlass ist gegeben: Eben ist im Insel Verlag Hans F. Geyers Physiologie der Kultur erschienen. Das Werk steht für den ganzen Lebensweg des Autors ein.

 

Hans F. Geyer geht von dem Erstaunen aus, dass die abendländische Philosophie wohl von Seele und Geist, kaum aber vom Körper spricht und dass selbst die moderne Psychosomatik wenig einsichtig verfährt. Der Körper als philosophischer Gegenstand wird hier wie dort verkannt und als Epiphänomen der Materie missverstanden. Diese Entwicklung führte zu einem bestürzenden Verlust der Leiblichkeit als einer Dreieinheit von Körper, Seele und Geist.

Die europäische Philosophie entfremdete bewusstseinstrunken das im ganzen Andere der Dreiheit zum ganz Anderen des Körpers und schied damit Körperwelt und Geistwelt unversöhnlich. Damit traten sich Idealismus und Materialismus als rivalisierende Diktaturen einer verleugneten Einheit gegenüber, und selbst die Evolutionstheorien schworen auf die Kausalgesetze der Materie. Sie belasten damit auch die jüngste erkenntnistheoretische Evolutionstheorie der Wiener Schule, die auf der materialistischen Seite des Idealismus haften bleibt und damit der Wahrheit in ihrer Gänze verlustig geht.

 

Geyer versteht den Körper als äussere sinnliche Gegenwart des Leibes. Er hat an der Dreieinheit teil. Darin erscheint das Innen des Aussen und das Aussen des Innen als flutende Zwischenwelt, die von der Haut zulänglich charakterisiert wird. Diese grenzt die Welt vor der Haut von der Welt innerhalb der Haut ab und verbindet die Schöpfung der Wahrheit. All dies geschieht im ideellen Körper, der wohl den stofflichen Körper mit einschliesst, aber in seiner ungetrennten Einheit als Leib weit über ihn hinausgreift.

 

Der Mensch lebt mit diesem ideellen Körper, er lebt aber auch in ihm und ausser ihm: im Zwischenreich, das eine innere Dynamik mit der Weltbegegnung eint. Der ideelle Körper hält zwischen Geist und Materie seine phänomenale Mitte. Diese Mitte wird zum Forschungsgegenstand Geyers. So erschliessen sich denn die inneren Ordnungen mitsamt der Weltordnung als philosophische Besinnung.

 

Es geht Geyer um die eigenwissenschaftlich gegebene Grenzsituation, in der der Leib als ideeller Körper zugleich Seele und Geist ist. Er ist innen und aussen in einem. Wir sind Leib, der sich erkennt und mit dem Leib für oder gegen den Leib handelt. Wird die Aussenwelt Leib, so ist der Leib Aussenwelt. Er verwirklicht sich im Austausch der Welten und erfüllt sich als sinnlicher Trieb im Sinn-Trieb. Damit werden auch die Ideen leibhaft. Das Ich im Leib wird seiner bewusst und darin gerichtetes Ich.

 

Die Gedankengänge Geyers entwerfen eine neue Anthropologie. Diese bindet Empfindungen, Gefühle und Gedanken in der phänomenalen Einheit des Übergangs. Das hat Folgen. Ist der Leib zugleich ein Innen und ein Aussen, so darf der Mensch weder der Innerlichkeit noch der Weltverführung verfallen. Die Grenzexistenz besitzt ihr Ethos, in dem der Mensch wird, was er noch nicht ist. Er hat sich aber der Artefakte der dogmatisierenden Ausbrüche zu entschlagen.

 

In Konsequenz dessen ist der Geist das, was der Körper aus ihm macht, wenn er sich dem dreieinigen Leib fügt. Geist ist eben nicht naturlos, sondern in der vergegenwärtigenden Genesis vorschreitende Natur. Darin überlebt der Geisttrieb das Leben. Dies in der transzendentalen Bewegung, die im Übergriff aller Welt die Gegenwelt der Innenwelt zuordnet und sie beide im ideellen Leib vermählt. Damit treten Naturgeschichte und Geistesgeschichte so zusammen, wie sich in dieser Philosophie des Zwischenreichs auch Idealismus und Materialismus zusammenfinden. Sein und Bewusstsein werden nicht mehr im Widerstreit bevorzugt, sie sind vielmehr zugleich und in sich zugegen.

 

Im Ereignis dessen wird der Leib geschichtsphysiologischer Leib; der Mensch als Geschöpf der Naturgeschichte wird seiner Geschichtsnatur inne. Die transzendentale Struktur jener bestimmt die bewusste Struktur dieser. Der Mensch, der sich will, tritt mit der geschichtlichen Veränderung der Natur in seine Menschengeschichte ein. Damit wirkt die Geschichte den Fermenten ähnlich auf die Ordnung des Leibes zurück. Schafft aber die menschliche Geschichte Naturgeschichte um, so liegen die Gefahren der "Manipulation" nahe.

 

Naturleib und Kulturleib sind als Einheit ein Kontinuum. Die Kultur besitzt demnach ihre Physiologie. Kulturgeschichte ist nicht körperlos. Die erweiterte Physiologie der Kultur gelangt zur Physiologie der Geschichte. Naturhistorisch wie er ist, wird der Leib historisch. War bisher die Geschichte von der Natur ausgeklammert, so verbindet sie Geyer im Zwischenreich des ideellen Leibes. Damit wird die Naturgeschichte ontisch Geschichte, wie die Naturwissenschaft ontologisch Geisteswissenschaft wird. "Natur und Geschichte können voneinander nicht getrennt werden." Damit bestimmt Geyer Kultur und Geschichte in ihrem Verhältnis zum Leib, und er begreift die kulturelle Evolution als natürliche Evolution.

 

Mit solchen Zirkelschlägen vermählt der Autor die Wissenschaften. Er erörtert die kulturelle Bedeutung des Leibes. Seine Theorie des ideellen Körpers lässt uns überrascht in das unbeackerte Neuland einer Theorie der Geistnatur blicken. Damit sind auch bedeutende Ansätze zu einer gewandelten Sprachphilosophie gegeben. Die Sprache wird in der Anverwandlung der Welt zur zweiten Geburt.

Diese Entwürfe stellen aber auch in der Natur der Mitmenschlichkeit die Fundamente einer neuen Ethik und Soziologie vor. Eine neue Religionsphilosophie gar meldet sich, wenn wir bedenken, dass man, die Natur zu erkennen, ihr zu gehorchen habe.

 

Hans F. Geyer versteht seine eigenständige Welt inmitten der Anregungen der biologischen und kulturbiologischen Anthropologien. Er lässt sich aber vorab durch Alfred North Whitehead und dessen Umriss einer Phänomenologie der hybriden Leiblichkeit bestärken. Man kann den Autor jedoch auch zwischen Ernst Fuhrmanns Pandaimonion und Paul Valérys Gedankenexperimenten orten.

 

Ernst Fuhrmanns "Versuch einer Biosophie" des Titels Wege erschien "als Manuskript gedruckt" ohne Jahresangabe in Frankfurt am Main vor der neunbändigen Zweiten Sammelausgabe, die zwischen 1954 und 1974 in Hamburg vorgelegt wurde.

Darin finden sich die Sätze: "Wenn wir uns vorstellen, dass fortgesetzt der gesamte verzweigte Stammbaum aller Pflanzen und Tiere im Menschen wiederholt wird, also geschieht, dann haben wir im Menschen eine so ungeheuerliche Zusammenfassung räumlicher und zeitlicher Art, dass uns eben diese Reduktion. (von Physis und Psyche) zwar als etwas von der Physis Abtrennbares erscheinen muss, was wir als Psyche bezeichnen, aber deshalb ist diese Trennung doch eben nichts als der Versuch, äusserst auseinander liegende Dimensionen auch zu scheiden, weil wir ihren innigen Zusammenhang nicht verstehn oder übersehn."

Und später: "In der Natur zu bleiben, ist unser Werden."

Oder: " ... so würde es die einzige grosse Wirklichkeit sein, wenn sich der Mensch mit seiner riesenhaften organischen Innenwelt beschäftigte. Natürlich trenne ich dieselbe nicht in Physisch und Geistig, denn beide sind gleich organisch ..."

Ferner: "Der menschliche Körper erntet und erbt in sich selbst."

"Drum stellt man den Menschen richtig dar als Summe der Tiere in innerer Arbeitsgemeinschaft unter einer Haut."

Also: "Alle Philosophie, die nicht biologisch am Umbau des eigenen Systems arbeitet, ist unwesentlich."

 

Paul Valéry dachte weniger hitzig als Fuhrmann. Jedoch erschien auch ihm der Körper dringlicher Studiengegenstand. Er sei nämlich alles, oder aber beinah alles und in allem. Der Nexus Corps, Esprit, Monde - CEM - sei allgegenwärtig. Es gehe um die drei grossen Variablen unserer Erkenntnis. Das Äussere sei Raum und Zeit zugleich und darin Gesamtheit von Ursprung und Erde. "Mein Körper" lasse sich für "mich" wie ein Fremdkörper fühlen, und Geist sei, was die Welt dem Körper abringe. Der Körper sei aber auch Welt, das Ich in der Erkenntnis die mehr oder weniger verhüllte Rolle des wahren Körpers. Wahr aber sei nicht der sichtbare, sondern der funktionelle Körper, in dem sich die Materie erneuere.

Damit wird das Leben zum Vollzug des Körpers. Dieser geschieht in Wachsamkeit, Akt und Ausbruch. Leben, Sensibilität und Gedanke sind sich in kleinsten Erregungen verbunden. Noch kennen wir den Eigenbestand der getrennten Reiche nicht. Der Besitz der Materie ist von den Strukturen verhüllt. Immer aber bleibt der "Körper" Werkzeug der Bezüge, Uhr der Gegenwart.

 

Der Gedanke bedarf des Hauchs, der Kehle, der tätigen Hand. es gibt keinen reinen Geist; wie wären denn alle Taumel möglich! Nur der Körper versteht die Kräfte. Alle. Der Geist ist ein Augenblick der Körperantwort auf die Welt. Damit ist der Gedanke nur durch den Körper ernst zu nehmen. Seine Erscheinung nur gibt ihm Gewicht.

Eine Seele ohne Körper ergeht sich in Wortspielen und Theorien. Sie muss aber Augen haben. Nur vergisst sich der glückliche Organismus. Der Arm kennt seine Gebärden, nicht jedoch seinen Bau. So gibt es nichts Fremderes als unseren Körper. In welche Sprache übersetzt er das, was wir von ihm wahrnehmen, oder in welche übersetzen wir, was er ist?

 

Valérys Frage lautet: Bald sei der Körper von der Erkenntnis geschieden, bald erscheine er, bald herrsche das eine, bald das andere vor. Welches also ist das Gesetz dieser Vereinigungen, dieser Trennungen, dieser Stellvertretungen?

Damit hält es auch Valéry für befremdlich, dass der Körper in den bekannten Philosophien totgeschwiegen wird. Er begehrt auf: "Jedes philosophische System, in dem der Körper nicht eine fundamentale Rolle spielt, ist albern und untauglich."

 

Hans F. Geyer schliesst diese Lücke. Valérys Gedanken liegen unter dem Titel Soma et CEM auf dreissig Seiten seiner dreitausendseitigen Cahiers von 1973 vor. Er lehrt, dass man den Körper fühlend denke, dass man sich in der Aussenhaut besinne und dass der Körper der Erkenntnis ebenso fremd wie vertraut sei. In der Gegenwart begegnen sich die körperlichen Empfindungen, die Welt der Dinge und der psychischen Schöpfung.

Hans F. Geyer ist der gültige Philosoph dessen.

 

31.8.1985

 

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