Ein neuer Weg der Lebensphilosophie
Badener Tagblatt, 11.2.1970
Hans F. Geyer: Von der Natur des Geistes. Philosophisches Tagebuch I, 1969.
«... Ausserdem habe ich die Kühnheit, zu glauben, dass die Leidenschaft zu
philosophieren in keinem Schweizer je stärker war ...» Dieses Selbstzeugnis legt
Hans F. Geyer In seinem Buch «Von der Natur des Geistes» ab, dem ersten Band
eines auf fünf Bände berechneten «Philosophischen Tagebuchs» (Verlag Rombach,
Freiburg i. Br.). Seinen Berufungsglauben bekundet der Verfasser nicht bloss in
Worten, sondern: auch durch die Tat., Nachdem er ein reguläres
Philosophiestudium mit dem Doktortitel abgeschlossen hatte, war er zwei
Jahrzehnte lang in der Industrie tätig, widmet sich nun aber seit Jahren
ausschliesslich, ohne akademische oder sonstige lehramtliche Bindung, seinem
philosophischen Werk.
Die thematisch geordneten grösseren und kleineren Aphorismen, die er auf den
zweihundert Seiten des vorliegenden Bandes mitteilt, können als Ausweis einer
starken und eigentümlichen denkerischen Begabung gelten. In vielen, oft glänzend
formulierten Abwandlungen umschreibt Hans F. Geyer die ihm vorschwebende ideale
Wechselwirkung zwischen Leben und Philosophie.
Er nennt es das Ziel seines Lebens, «als Philosoph zu leben». Die
literarische Anstrengung soll ihm «Dienerin des Lebens» sein, und er bedauert
die «Desertion des Geistes aus den Reichen der Tat, aus Wirtschaft und Politik».
Verehrungsvoll spricht er von jenen Philosophen des klassischen Altertums, die
ihr Denken: unmittelbar Im eigenen Leben zum Ausdruck gebrachte haben, was er -
den Wandel der Zeit wohl zu wenig berücksichtigend - bei modernen
Existenzphilosophen wie Sartre und Jaspers vermisst.
Das Leben ein Kunstwerk?
«Die erste Sorge des sowohl praktisch wie theoretisch denkenden
Philosophen wird also sein, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen, durch
ständige Übung in den richtigen Leidenschaften, Gefühlen und Gedanken.»
Aus solcher Tendenz ergibt sich die hohe Wertschätzung des Leibes, von dem Geyer
in dialektischer Verwegenheit behaupten kann, er sei nicht nur ein Gefäss des
Geistes, sondern der Geist selber. Aus ihr erklärt sich auch der Titel des
Buches: Geyer empfiehlt Rückkehr zur »Natur» des Geistes, worunter er eine
Denkbewegung versteht, die nicht so sehr ein angespanntes Bemühen um die
Wahrheit wäre als »eine Hingabe an sie, … ihre Empfängnis aus der
Psyche, aus dem Kosmos». In anderer Formulierung:
«Der Geist sollte so etwas sein wie ein mächtiger Naturtrieb, wie Hunger,
wie Liebe.»
Bezeichnend ist der Begriff des psychosomatischen Denkens, eines Denkens
nämlich, «das sich nicht nur im Kopf abspielt, sondern starke und tiefe Wurzeln
im ganzen System des Körpers hat».
H. F. Geyer sieht also, im Unterschied zu Ludwig Klages und ähnlichen
Lebensphilosophen, im Geist nicht den Widersacher der Seele, er hält eine
lebensfreundliche Geistesentwicklung, «eine mit dem Leben selbst verschmolzene
Reflexion» für möglich. Das ist ein an und für sich bejahenswerter,
begeisternder Gedanke, doch scheint er mir bei Geyer allzu individualistisch
gefasst zu sein.
Ob das Leben zum Kunstwerk gestaltet werden könne, ist zweifelhaft; unter den
bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen gelingt dies jedenfalls bloss durch
zufällig begünstigende Umstände, die für andere Menschen Ungunst, soziale
Benachteiligung bedeuten.
Geyer traut übrigens der von ihm gepriesenen «Eupathie», dem Wohlgefühl des
souveränen. Philosophen, selber nicht ganz, denn gelegentlich kann er auch
schreiben:
«Hinter jeder Philosophie und Religion steht ein kleines armes
Menschlein, das meistens noch Angst hat. »
Als einsichtiger Abstrich am »Leben als. Kunstwerk» Ist wohl auch die Warnung zu
verstehen:
«Man sollte sich hüten vor der perfekten Existenz.»
In der Bemerkung, Nietzsche und Jacob Burckhardt hätten über Kultur
philosophiert, ohne an die. Arbeit zu denken, liegt vielleicht der Ansatz zu
Ideen, die für das Bildungsproblem der heutigen Gesellschaft fruchtbar werden
könnten.
Erfreulich ist ebenso die Kritik an
…
vom dialektischen Charakter der Entwicklung von Logos und Mythos und gesteht,
diesem bedeutende Entwicklungsmöglichkeiten zu, jedoch ohne anzugeben, welcher
der vielen rivalisierenden 'Mythen gemeint sei. Indem er die .Religion als den
zur Glaubensform erstarrten Mythos definiert, scheint er sie abzuwerten. An
anderer Stelle rühmt er aber - im Widerspruch zur Erstarrungstheorie - das
«dynamische Glaubensideal« der christlichen Religion als jene «ungeheuer
fruchtbare innerlichste Unsicherheit», die die einzigartig entwicklungsmächtige
europäische Geschichte ermöglicht habe.
Es wäre doch zu untersuchen, ob das Beste dieser Geschichte nicht eher im Kampf
gegen die keineswegs dynamische kirchliche Dogmenherrschaft entstanden sei. Eine
«freundliche gegenseitige Durchdringung» des christlichen und des
heidnisch-antiken Erbgutes, wie Geyer sie postuliert, ist schwerlich eine
Aufgabe der Gegenwart; heilsam wäre vielmehr die freie vernunftmässige Prüfung
beider Überlieferungen. Geyer selber bekennt sich implizite zur Freiheit der
Entwicklung wenn er einräumt:
«Vielleicht wissen wir gar nicht, was Kultur einmal sein wird.»
Der Glaube an den schöpferischen Menschengeist tritt noch deutlicher zutage In
der These:
«Durch seine blosse Existenz hat der Gedanke schon einen Teil
Wirklichkeit, hat er schon begonnen, sich zu realisieren.»
Oder bildhaft gesagt:
«Jeder einzelne unserer Gedanken ist der Homunkulus der Zukunft …»
Wenn Geyer solches Gedankenleben als mythisch bezeichnen will, sei es ihm nicht
verwehrt, vorausgesetzt, dass er dafür ist, den Homunkulus mit möglichst viel
Vernunft auszustatten. Als Einverständnis mit dürfen wir die Warnung
verstehen, die er im Kapitel «Persönliches - Unpersönliches» sich selber
zuzurufen scheint: »Wehe, wenn das Herz zu denken beginnt!»
Aus dem leidenschaftlichen Denken, das sich doch nicht vom blossen Gefühl
überwältigen lassen will, kommt die grosse Anregungskraft des »Philosophischen
Tagebuchs». Auf den Reichtum der neben den Leitgedanken hergehenden
seelenkundlichen und kulturphilosophischen Aperçus sei wenigstens summarisch
noch hingewiesen.
Robert Mächler
«Arbeit und Schöpfung»
Badener Tagblatt, 30.10.1970
Hans F. Geyer: Arbeit und Schöpfung. Philosophisches Tagebuch II, 1970, Verlag
Rombach, Freiburg/ Br.
Dem vor einiger Zeit hier angezeigten ersten Band des «Philosophischen
Tagebuchs» von Hans F. Geyer ist der zweite gefolgt, «Arbeit und Schöpfung»
betitelt. Wieder bedient sich, Geyer - bei übrigens sorgfältiger thematischer
Gruppierung des Stoffes - einer fragmentarischen, aphoristischen
Mitteilungsform. Er weiss sich, indem er so verfährt, im Einklang mit; dem
Charakter unseres Jahrhunderts, den er als fragmentarisch bezeichnet, womit er
etwas Zukunftsträchtiges, eine Haltung der geistigen Offenheit meint. Vom
Philosophen sagt er in diesem Zusammenhang: «Fragment wird seine Erkenntnis
dadurch, dass, mit Fichte zu reden, seine Philosophie so ist, wie er ein Mensch
ist, ein Mensch also, der in Funktion seiner Menschlichkeit diese bestimmte
Philosophie entwickelt.»
Hans - F. Geyers Menschlichkeit, enthält, ungeachtet seines Einzelgängertums als
Philosoph, Mitmenschlichkeit genug, um gegen einen Individualismus in der Art
Nietzsches oder Stirners gefeit zu sein. Er verwirft den isolierenden
Geniebegriff des 19. Jahrhunderts und sucht im Bild des Bürgers den Citoyen
gegenüber dem Bourgeois zur Geltung zu bringen. Goethe würdigt er als
Repräsentanten eines Bürgertums, das fähig ist, «die Extreme in die Mitte
hineinzunehmen, die Leidenschaft zu bändigen, so dass sie an Sinn gewinnt;, ohne
an Kraft zu verlieren». An Robert Walsers, Dichteweisheit erinnert Geyers
dialektische Betrachtung über Glück und Unglück, gipfelnd in dem Satz: «Das
Glück ist das Geistwerden des Unglücks. » Auf ähnliche Weise wird das Verhältnis
von Arbeit und Schöpfung beleuchtet, unter kühner Verwendung von Kierkegaards
Begriff der. Wiederholung: aus der arbeitsmässigen Wiederholung geht der
«Sprung», die schöpferische Mutation, hervor.
Die Bemerkungen zur Dialektik der Nationen haben ihre Mitte im Bekenntnis zum
europäischen Geist. Europa allein, erklärt Geyer, könne in einem höheren
philosophischen Sinne denken. Unsere wesentliche Aufgabe sei, von dieser Gabe
den rechten Gebrauch zu machen. Dem Denken schreibt der Verfasser zwar keine
unmittelbar religionsstiftende Kraft zu, doch ist es ihm ein Anliegen von
religiöser Bedeutung, «dass der Philosoph futuristisch denke, dass seine
Philosophie zu einer Art von Poesie, .zu einer Art von Gedicht der
Zukunft werde». Hoffentlich kein blosses Wunschgedicht bleibt Geyers Idee eines
gesamtirdischen Bundesstaates als des politischen Ziels der Weltgeschichte.
Solcher Zielsetzung gemäss hat er den demokratischen Mut, die geistige
Entwicklung der Menge für möglich zu halten, indem er hofft, dass bei
abnehmendem Zwang zu mechanischer Arbeit Geistesübung für jedermann
gewissermassen zur Existenzfrage werde.
Die bisherigen Religionen möchte Geyer als «Bausteine» der künftigen
fortbestehen lassen, womit: er allerdings ihren exklusiven Wahrheitsanspruch,
namentlich den des Christentums, verkennt oder unterschätzt. Von seinen
Bemerkungen zum Christentum überrascht wohl am meisten die Formel: «Ohne die
Bibel keine moderne Industrie.» Es mag ja sein, dass Unternehmer und Arbeiter,
wie der Verfasser meint, noch von der christlichen Substanz zehren, das. heisst
sich durch christliche Sittenlehre wenigstens teilweise zu wirtschaftlichem
Dienen bestimmen lassen. Grösseren Anteil an der industriellen Entwicklung hat
aber wahrscheinlich die Reaktion des Unglaubens und der Sorge auf das
überfordernde christliche Gebot des Nichtsorgens. Die moderne Industrie ist zwar
nicht ohne die Bibel, aber hauptsächlich gegen sie, gegen das
urchristliche Ethos entstanden.
Auch was der Verfasser von der geistigen Durchdringung der Geschlechtsliebe
durch die christliche Religion und Ethik sagt, bedarf der kritischen Ergänzung.
Es wird da zu wenig deutlich, dass das Christentum nicht unmittelbar, sondern
nur auf dem Umweg über das schlechte Gewissen wegen misslungener Askese erotisch
verfeinernd gewirkt hat. Treffend ist dagegen der Aphorismus über die Ehe von
Hephästos und Aphrodite als Gleichnis der heutigen Symbiose von Technik und
Erotik.
Was immer gegen Einzelnes vorzubringen ist, der Kritiker. fühlt sich entwaffnet
und stimmt gerne zu, wenn er auf einer der letzten Seiten «die ganze
Rechthaberei Hegels und Marxens» erledigt findet durch die Worte: «Wir haben
eingesehen, dass es viel fruchtbarer ist, unrecht zu haben. Man muss sich
erschüttern lassen.» Der damit bezeugte gute Denkerwille macht auch die letzte
These des Buches annehmbar: «Was ist die Menschheit? Eine Erfindung.»
Robert Mächler
Ein philosophischer Sachwalter der Religion
Badener Tagblatt, ca. August 1971
[Zu Hans F. Geyer: Das Kontinuum der Offenbarung. Philosophisches Tagebuch, Bd.
III, 1971]
Den früher hier angezeigten zwei ersten: Bänden des "Philosophischen
Tagebuchs" von Hans F. Geyer ist der dritte gefolgt: ''Das
Kontinuum der Offenbarung" (Verlag Rombach‚ Freiburg im Breisgau). Dieses
Buch ist ein beredtes, streckenweise faszinierendes Plädoyer für die Religion,
allerdings nicht für eine bestimmte historische, sondern für die "elementare",
die der Verfasser in allen menschlichen Lebensbereichen wirksam sieht: "Die
Menschheit schwimmt, wie in einem Fluss, in einem 'Kontinuum der Offenbarung',
das keinen Anfang und kein Ende, kein Innen und kein Aussen kennt, das immer
zugleich Anfang und Ende, Innen und Aussen ist." Negativ ausgedrückt: „Es gibt
keine Areligiosität aus dem gleicher. Grunde, wie es in der Natur das Nichts
nicht gibt." Die historischen Religionen haben für Geyer bloss Gleichniswert,
die elementare entwickelt sich im Sinne der Losung: "Gott muss wachsen, und wir
mit Ihm.“
'Eine solche Anschauung führt notwendig zu kritischer Beurteilung sowohl der
verfestigten historischen Religionsformen als auch der von der Religion
(scheinbar, wie Geyer glaubt) emanzipierten Weltbilder. Der Verfasser weiss,
dass in der heutigen Christenheit immer noch viel Mittelalter lebt. Die Religion
der meisten, heisst das, besteht noch immer im Bekenntnis zu absolutgesetzten
"Glaubenswahrheiten", im Fürwahrhalten von Sätzen, die nach dem Verfasser die
"Formalstruktur des Glaubens" ausmachen. Dennoch meint er die Kirche als
historische Macht, als Trägerin und Hegerin religiöser Formalstruktur anerkennen
zu sollen, denn: "auch der reinste Glaube wird nicht ohne die Wucht der
historischen Existenz auskommen, nicht ohne die Kirche."
In den sich areligiös oder antireligiös gebenden Erscheinungen und Bewegungen
unserer Zeit sucht Geyer die Wirksamkeit des allgemeinmenschlichen religiösen
Bedürfnisses nachzuweisen, so in einem Spezialistentum, das je sein Teilgebiet
vergötzt, im Marxismus-Leninismus, der die Wirtschaft verabsolutiert, in der
objektivistischen Wissenschaft ("Wissenschaftskirche") und im Atheismus. All
diese Erscheinungen werden als pseudoreligiös oder kryptoreligiös gedeutet. Zur
religiösen Gesundung der Gesellschaft bedürfte es einer verstärkten,
vertrauensvolleren Hinwendung des Menschen zu seiner inneren Erfahrung.
Besondere Hoffnung setzt der Verfasser in die Möglichkeit einer Synthese von
Antike und Christentum. Er denkt sich eine Religion, „welche die zentralen
Triebe des Menschen bejaht, ohne das jahrtausendealte bewunderungswürdige
Bändigungs- und Erziehungswerk des Christentums zu zerstören ..." Darüber hinaus
schwebt ihm eine Weltreligion vor als "Dach" über den einzelnen (auch
nichtchristlichen) Religionen und Pseudoreligionen, eine "Föderation von
Religionen'' mit wachsendem Willen zur Einheit.
Grosse Aufgaben werden da gestellt. Richtig ist wohl der Grundgedanke, dass dem
Menschen ein religiös zu nennendes Fühlen und Trachten unverlierbar eigen ist.
Der angedeuteten evolutionären Weltreligion werden jedoch Schwierigkeiten Im
Wege stehen, die der Verfasser anscheinend zu wenig beachtet. Christen und
andere Offenbarungsgläubige werden sich ihre Glaubenssätze schwerlich durch sein
"Kontinuum der Offenbarung" relativieren oder auf blossen Gleichniswert
herabsetzen lassen. Im Unterschied zu jenen Sätzen ist ja mit dem Kontinuum,
wenn ich recht verstehen, nichts im vornherein Übernatürliches, sondern die
religiöse Entfaltung des Menschengeistes gemeint, "Die Evolution Gottes ist euch
die Evolution des Menschen", sagt Geyer. Von seiner These, die Natur habe etwas
mit dem Menschen vor, und diese Intention werde mit dem Chiffrewort "Gott"
bezeichnet, werden sich weder die Frommen noch die Freidenker befriedigt
erklären. Für den Frommen ist Gott das absolut naturüberlegene Wesen, und der
naturwissenschaftlich orientierte Freidenker kann mit dem erwähnten Chiffrewort
"nichts anfangen". Was Geyer die Formalstruktur des Glaubens nennt, gilt dem
Gläubigen selber als dessen Substanz, während der Ungläubige darin ein
Wahngespinst erblickt. Fragwürdig Ist auch die Idee einer Synthese von Antike
und Christentum, vor allem was die von Geyer angestrebte Reintegration der
Geschlechtsliebe in die christliche Religion betrifft; eine starke asketische
Komponente gehört nun einmal wesensmässig zu dieser. Wertvoll ist, dass Hans F.
Geyer in prinzipiell freiheitlichem Geiste die Aufmerksamkeit auf eine Kernfrage
der künftigen Kulturgestaltung lenkt. Die von ihm bewusst gemachte religiöse
Problematik aller menschlichen Existenz wird durch keine "Verweltlichung"
aufgehoben, aber wahrscheinlich auch durch keine Anstrengung des Menschengeistes
endgültig gelöst werden.
Robert Mächler
Tagebuch eines Philosophen
Neue Zürcher Zeitung, 24.10.1972, Nr. 497
Hans F. Geyer: Biologie der Logik. Philosophisches Tagebuch IV. Verlag Rombach,
Freiburg im Breisgau 1972.
Hans F. Geyer ist der Schriftstellername eines in der Nähe von Zürich
wohnenden Privatgelehrten, der bisher ein Aphorismenbändchen und vier Bände
eines «Philosophischen Tagebuchs» veröffentlicht hat. Die in den ersten drei
Bänden dieses Hauptwerks noch deutlich bemerkbaren tagebuchartigen Züge sind in
dem kürzlich erschienenen vierten Band, einer «Biologie der Logik»,
zugunsten systematischen Philosophierens zurückgetreten.
Geyer möchte sowohl den Idealismus wie den Materialismus durch
eine neuartige Existenzphilosophie, eine Philosophie der leiblichen
Dreieinheit von Körper, Seele und Geist, überwinden. Er spricht von der
Satellitenstruktur des Leibes und meint damit, dass Seele und Geist sich wie
Satelliten zum Körper verhalten. Dieses den Körper scheinbar zu hoch bewertende
Bild korrigiert er durch die Annahme eines biologischen Regelkreises, wonach
Seele und Geist nicht einseitig vom Körper hervorgebracht werden, sondern als
Organe der Kultur ihrerseits schaffend auf den Körper einwirken: Gute Dienste
leistet die Satellitenvorstellung in der Geschichtsphilosophie. Die .vom Körper
sich gefährlich entfernende Bahn des Satelliten Seele kann als charakteristisch
für das christliche Mittelalter, die ebenfalls disharmonische Bahn des
Satelliten Geist als Merkmal der Neuzeit gelten.
Die Lehre vom kybernetischen Aufeinanderwirken polarer Kräfte oder .Wesenheiten
ist, verflochten mit der Idee der leiblichen Dreieinheit, das Leitmotiv von
Geyers Gedankengängen. In jedem Kapitel des Buches finden sich Sätze der
Wechselbezüglichkeit wie die folgenden:
«Die Situation des Mythos unterscheidet sich von derjenigen des Logos dadurch,
dass der mythische Mensch tut, um zu erkennen, der logische Mensch aber erkennt,
um zu tun, wobei die logische Komponente des Mythos sich nachträglich aus dem
Geschehen ergibt, die mythische Komponente des Logos nachträglich aus dem
zurückgelegten Wege, aus der. Heuristik.»
«In unserm Zeitalter, da die Naturwissenschaft ins Innere des Lebens
einzudringen beginnt, wächst die Einsicht, dass der Mensch innen will, was die
Natur aussen darstellt, dass die Natur ausen will, was der Mensch innen
darstellt.»
«Nachdem das Fleisch Wort geworden durch die Naturgeschichte des Menschen, wird
das Wort auch Fleisch durch die Geschichte des Menschen.»
«Die Geschichte des Menschen fordert die Bewegung seiner Natur, die Natur des
Menschen die Bewegung seiner Geschichte.»
Wo die allgemeine Wechselwirkung so stark betont wird, liegt offenbar ein
monistisches
Weltbild vor, das die Annahme einer Überwelt ausschliesst. Im
religionsphilosophischen dritten Teil der «Biologie der Logik» ist die
Rede vorn innerleiblichen Ursprung Gottes, von. den leiblichen
Vollkommenheitsgefühlen als dem Ursprung der: Religion.
Manches erinnert hier an Ludwig Feuerbach. Wie dieser könnte Geyer sagen:
«Indem ich die Theologie zur Anthropologie erniedrige, erhöhe ich vielmehr die.
Anthropologie zur Theologie.» Aber noch ausdrücklicher als Feuerbach will er
einer künftigen Religion den Weg bereiten Er; will den «göttlichen
Gott» des gläubigen Mittelalters und den «gottlosen Gott» der
naturwissenschaftlichen Neuzeit, den Sinngott und den Seinsgott
zur Vereinigung bringen: «Die religiös Zukunft des Menschen sehe ich in einer
Harmonie von Mythos und Logos in der Weise, dass das Absolute der Religion
erkannt wird als ein Absolutes im Relationssystem des Universums und der
leiblichen Dreieinheit: der Mythos, also, hingeordnet auf den doppelten Kosmos,
den Makrokosmos der äussern, den Mikrokosmos der innern Natur des Menschen.»
Dem Verfasser schwebt somit eine Art neues, durch die mittelalterliche Seele und
den neuzeitlichen Geist hindurchgegangenes Griechentum, eine
gesamtgeschichtliche Verwirklichung von Nietzsches «grosser Vernunft» des Leibes
vor. Er entwickelt diese Idee mit bedeutender Kraft der Intuition und einem
reichen, vielleicht allzu kühn gehandhabten begrifflichen Rüstzeug. Bedenken
erregt namentlich der überdehnende Gebrauch des Mythosbegriffs. Geyer will ja
den mythischen Geist am Leben erhalten, aber in seinen Aussagen über den mit dem
Logos zu versöhnenden, das heisst philosophisch annehmbar zu machenden Mythos
bleibt ungesagt, was dessen Inhalt sein könne. Religion, erklärt Geyer, müsse
eine äussere Form haben, doch befasst er sich nicht mit dem Kultproblem der
angestrebten philosophischen Religion, wie Auguste Comte einst - allerdings ohne
Erfolg - getan hat. Die Sachwalter der theistischen Religionen werden natürlich
weder mit einer gänzlichen Körpergebundenheit von Seele und Geist noch mit der
mythischen Auffassung des Religiösen einverstanden sein.
Hans F. Geyers «Biologie der Logik», ein stellenweise schwer verständliches
Buch, zeugt von einer Begabung zu spekulativem und systematischem Denken, wie
sie in der Schweiz selten vorkommt. Um des Verfassers eigene Terminologie
anzuwenden: Auch wenn sich der Logos dieses Buches nicht als in jeder Hinsicht
stichhaltig erwiese, wäre es als grossgedachter philosophischer Mythos
wertzuhalten. Es ist, mehr oder weniger unabhängig von seinem Gehalt an
nutzbarer Erkenntnis, ein Gedankenkunstwerk.
Robert Mächler
Eine Philosophie der Synthese
Badener Tagblatt, 8.12.1973
Zu Hans F. Geyers «Dialektik der Nacktheit». Philosophisches Tagebuch V, 1973
Liebhabern von pikanter Sex-Literatur hat die «Dialektik der Nacktheit»,
der fünfte Band von Hans F. Geyers «Philosophischem Tagebuch» (Verlag
Rombach, Freiburg im Breisgau), nichts zu bieten. Der in der Nähe von Zürich
wohnende Verfasser beschreibt zwar, wie ihm die Teilnahme an den Zusammenkünften
einer Nudistengruppe am Genfersee, in der Landschaft Rousseaus, zum
grundlegenden Erlebnis seiner Jünglingsjahre geworden ist. Man darf ihm aber
Glauben schenken, wenn er versichert, dass dieses Erlebnis mehr ein geistiges
als ein sinnliches war. Autobiographisches enthält der Band sonst wenig; an ein
Tagebuch erinnern bloss die kurzen, meist in sich geschlossenen Abschnitte.
Im vorausgegangenen Band hat Geyer eine
Lehre von der «leiblichen Dreieinheit»,
von der innigen Wechselwirkung zwischen Körper, Seele und Geist entwickelt,
durch die er den bisherigen Gegensatz von Idealismus und Materialismus zu
überwinden hofft. Nun erörtert er im fünften Band zunächst das dialektische
Verhältnis von Natur und Kunst (diese sowohl als technische wie als musische
verstanden), mit dem Ergebnis, dass Rousseaus «Zurück zur Natur» nicht
eine Antithese zur Kunst bleiben dürfe, sondern zur Synthese führen müsse, «auf
die Höhe eines Daseins, in dem die Leistung ganz in den Dienst des Seins
gestellt wird».
Die Ideen der leiblichen Dreieinheit und des dialektischen Verhältnisses von
Kunst und Natur sind die Leitmotive der anschliessenden Betrachtungen über die
Nacktheit. Geyer würdigt und kritisiert sowohl die als göttlich empfundene
Nacktheit der klassischen Antike wie auch die bewusstseinsvertiefende
christliche Feindschaft zwischen Geist und Fleisch, um darüber das Ideal
einer «zweiten Unschuld» aufzurichten, in welcher der antike Sensualismus
und der christliche Spiritualismus miteinander versöhnt wären. .In vielfältiger
Abwandlung werden der Körper als Aussenform des Geistes und der Geist als
Innenform des Körpers, Natur und Geschichte, Nacktheit und Kleidung zueinander
in Beziehung gesetzt. Die erkannte religiöse Bedeutung der leiblichen
Dreieinheit wird nach Geyer korrigierend auf Wissenschaft, Technik, Wirtschaft
und Politik einwirken und den Menschen von der «geschichtlichen
Endzeithysterie» heilen: «Über dem scheinbar fieberhaften Werden der Geschichte
waltet eine grosse Ruhe als das Wesen des Werdens, die derjenige am besten
erkennt, der die Natur ausser dem Menschen überhaupt auf sich einwirken lässt,
denn in ihr lebt der gleiche zähe, unendliche und unendlich unerschütterte Wille
wie in der Tiefe der menschlichen Natur».
Schwierig sind die Gedankengänge oft schon in den genannten Themenbereichen,
noch schwieriger werden sie, wo Geyer Theismus und Atheismus als Teilwahrheiten
zu begreifen und im Sinne seiner «elementaren Religion» der leiblichen
Dreieinheit die Idee des werdenden Gottes zu umreissen sucht. Aus dem mystischen
Vertrauen auf den Zusammenfall der Gegensätze in Gott kann er etwa schreiben: «Die
Zersetzung der Leiblichkeit in der abstrakten Kunst, der Einbruch der Mathematik
und der Technik in die Symbolik der Kunst sind die Mahnung und das Wahrzeichen
einer drohenden, aber auch einer verheissenden Zukunft, verheissend dann, wenn
es gelingt, die grossen Spannungen der kämpfenden Begriffswelten von Natur und
Kunst ideell so zu meistern, dass der Gott im Menschen und der Mensch in Gott
nackt sein kann, ohne sich zu schämen, bekleidet sein kann, ohne sich seiner
Kleider zu schämen.»
Problematik der philosophischen Eigensprache
Im letzten Kapitel des Buches sagt Hans F. Geyer: «Um dem tiefsten ,Willen'
seiner Individuation gerecht zu werden, um seine innersten Absichten
auszudrücken, müsste eigentlich jeder Mensch seine eigene Sprache haben, die
voll und ganz nur ihm verständlich wäre.»
Der Philosoph, der diese bedeutsame Wahrheit ausspricht, hat sich selber eine
Sprache geschaffen, die in ihren wesentlichen Begriffskonstellationen
tatsächlich seine eigene ist. Inwiefern sie sich im Wettbewerb mit all den
anderen Eigensprachen der Philosophiegeschichte behaupten wird, ist schwer zu
beurteilen. Aus der Idee der leiblichen Dreieinheit mag für eine künftige
naturbewusstere Kultur manches zu gewinnen sein. Dagegen sind die spekulativen
Gedankengänge über den werdenden Gott eher misstrauisch zu betrachten. Geyer,
der das Christentum nicht aufheben, sondern höher entwickeln möchte, mutet ihm
damit zu viel zu, denn als christlich wird immer nur der Glaube an einen
überweltlichen, ewig vollkommenen Gott gelten können. Als ein hochgemut
entwicklungsgläubiges Zukunftsdenken vermag die Philosophie Hans F. Geyers
ähnlich zu faszinieren wie diejenige Teilhard de Chardins. Sie übertrifft diese
an dialektischer Kühnheit - bei entsprechend grösserer Gefahr der begrifflichen
Überanstrengung.
Robert Mächler
Hans F. Geyer, ein schweizerischer Denker unserer Zeit
Zur „Dialektik der Nacktheit“,
Philosophisches Tagebuch V, Rombach-Verlag, Freiburg im Breisgau 1973.
Von Robert Mächler, Schweizer Monatshefte 54. Jahr, Heft 1,
April 1974, 75-78.
Von den Rezensenten meist respektvoll behandelt, aber noch
kaum von einem grösseren Publikum beachtet, erscheinen seit mehreren Jahren die
Bände des „Philosophischen Tagebuchs“ von Hans F. Geyer.
Der unter diesem Decknamen schreibende, in der Nähe von
Zürich wohnende Denker hat ein reguläres Philosophiestudium durchlaufen, war
dann in einem Verlag und mehr als zwei Jahrzehnte lang in der Industrie tätig,
worauf er sich, in erstarkendem Bewusstsein der philosophischen Berufung, ganz
der Abfassung des genannten Werkes widmete. Angekündigt hat er dieses bereits in
den 1962 erschienenen „Gedanken eines philosophischen Lastträgers“
(Origo-Verlag, Zürich). Ebenda findet sich auch das programmatische
Selbstzeugnis: „Es ist mir nicht gegeben, ohne Enthusiasmus zu philosophieren.“
Wenn Geyer im Vorwort zum fünften, 1973 veröffentlichten Band des „Tagebuchs“
bezeugt, er habe diesen in der „rauschartigen Hingerissenheit einer creatio
ex nihilo“ geschrieben, so kann aus der Zeitspanne zwischen den beiden
ähnlich lautenden Äusserungen gefolgert werden, dass sein Enthusiasmus einen
langen Atem hat.
Anderseits will er fragmentarisch philosophieren. Das
Fragmentarische, mein er, sei das Wesen unseres Jahrhunderts eine nach Ergänzung
verlangende Zukunftsträchtigkeit, deren denkerisch Ausdrucksform der Aphorismus
oder der Kurzessay sei. Ihrer bedient er sich durchgängig, doch haben die
letzter drei Bände des „Tagebuchs“ einen ziemlich systematischen
Charakter angenommen.
Geyers Philosophie ist eine
spekulative Anthropologie mit dem Leitbegriff der „leiblichen Dreieinheit“
von Körper, Seele und Geist. Im Unterschiet zum physikalischen und zum
tierischer Körper ist der menschliche ein Leib, „das heisst er ist als
Körpergeist und Geistkörper, als Körperseele und Seelenkörper der Träger der
menschlicher Idee“. Geyer spricht von der Satellitenstruktur des dreieinigen
Leibes: im Zentrum der physische Körper mit seinen biologischen Erbgut, auf
einer innerer Kreisbahn der seelische Organismus, in Distanz gehalten durch
mythische Abstraktion (Aura des Gefühls), auf einer äusseren Bahn der geistige
Organismus in Distanz gehalten durch logische Abstraktion (Aura des Begriffs).
Die bei den Abstraktionen werden
ermöglich durch Verankerung im „objektiven Geist“, nämlich im kulturellen
Erbgut oder zweiten genetischen System. (Das erste ist das physisch-biologische
Erbgut.) Nach Art eines kybernetischen Regelkreises wirken Seele und Geist auf
den naturgesetzlich schaffenden Körper selber schaffend zurück.
Mit der Idee der leiblichen
Dreieinheit glaubt Geyer den Gegensatz von Materialismus und Idealismus
überwunden und in ihr zugleich die Grundlage einer wissenschaftlich und
denkerisch vertretbaren Religion gefunden zu haben. Religion hat ihren Ursprung
in den leiblichen Vollkommenheitsgefühlen. Das Übernatürliche steckt in der
Natur selber, diese ist „eine Immanenz, gesprengt durch ihre
Transzendenz“.
Gott verwirklicht sich im
werdenden Menschen, eine Idee, die der vierte Band des „Tagebuchs“ („Biologie
der Logik“, 1972) in Ausdrücken einer kybernetischen Religionsphilosophie
entfaltet. So kann Geyer des Cusanus coincidentia oppositorum in Gott als
Zusammenfall von Sein und Sinn im Menschen, als existentielle Einheit von Innen
und Aussen, von Subjekt und Objekt deuten.
Das Innen aber, betont er,
verhält sich nicht nur betrachtend zum Aussen, sondern gebietend. Das Wahre soll
erkannt werden, damit das Gute getan werde. Gebietende Innerlichkeit ist die in
der leiblichen Dreieinheit sich vollziehende Individuation oder Inkarnation. Sie
ist das primär Aktive, das, selber von Natur und Geist geprägt, massgebend die
Gesellschaft prägt. Die grossen Individuationen haben Europa geschaffen, die
Entwicklungstendenzen des europäischen Geistes begründet, die Geyer sowohl
bewundert wie kritisiert.
Die ihm vorschwebende Harmonie der leiblichen Dreieinheit
ist durch den einseitigen Spiritualismus des christlichen Mittelalters gestört
worden. In der Neuzeit hat der Satellit Geist andere exzentrische Bahnen
eingeschlagen. Erscheinungen wie der Marxismus, die sich areligiös gebende
Wissenschaft und ihre technokratische Anwendung, auch der Existentialismus in
seinen bisherigen Hauptvertretern werden von Geyer als pseudoreligiös oder
kryptoreligiös qualifiziert, der falschen Mythisierung bezichtigt.
Positive Voraussetzung solcher
Kritik ist die Annahme einer elementaren Religion, die notwendig alle
menschlichen Lebensbereiche durchwaltet und nur durch geistige Perversion
verleugnet werden kann. Der Mythos, der in den älteren Zeiten vorgeherrscht hat,
soll demnach nicht verschwinden, jedoch soll er zu seinem Gegenpol, dem Logos,
in ein freundliches Verhältnis treten. In weitläufigen dialektischen
Gedankengängen sucht Hans F. Geyer die Möglichkeit solcher Versöhnung glaubhaft
zu machen.
Der synthetische Grundzug seines
Denkens zeigt sich besonders deutlich in dem Postulat, den antiken Sensualismus
und den christlichen Spiritualismus miteinander in Einklang zu bringen. Zwar
sagt er im ersten Band des „Philosophischen Tagebuchs“ („Von der Natur
des Geistes“, 1969), das christliche und das antike Element unserer Bildung
seien eigentlich wie Feuer und Wasser, im zweiten indes („Arbeit und
Schöpfung“, 1970) meditiert er über die geschichtliche Dynamik, die aus der
Mischung von griechischem und jüdischem Geist entstanden sei, und mit starker
Zuversicht wird der Harmonisierungsgedanke im zuletzt erschienenen fünften („Dialektik
der Nacktheit“, 1973) vorgetragen:
„Die numinose Nacktheit der
Antike unterlag gegen den jüdisch-christlichen Geist nicht als die niedrigere,
sondern als die an sich höhere religiöse Idee. Aber der Geist hatte in
ihr noch nicht diejenige Durchbildung erfahren, die notwendig ist, um die
Sinnlichkeit zu beherrschen und ihre Wucherungen auszuschliessen. So war die
christliche Religion eben doch die höhere gegen die antike, weil sie in ihrer
Einseitigkeit die einseitige Durchbildung des Geistes erzielte, die der an sich
grösseren, aber nicht beherrschten dreifaltigen Einheit von Körper, Seele und
Geist des antiken Gott-Typs fehlte. Der Schritt in die Fülle aber ist heute als
Manifestation der elementaren Religion religionshistorisch,
religionsphilosophisch und religionspsychologisch wieder möglich, heute, da wir
über die nötigen Voraussetzungen verfügen, um das umfangreichere Numen der
Nacktheit mit dem Sinne, mit dem Feuer der Idee zu erfüllen, die notwendig sind,
um der natürlichen Geistseele, die aus dem sprechenden Körper wie aus einem
Blumenkelch emporsteigt, jene Erhöhung zuteil werden zu lassen, die in der Natur
der menschlichen Religion angelegt und dem Gottmenschen und Menschengott
vorausbestimmt ist.“
Diese „zweite Unschuld“
wird die Exzentrizität des Geistes korrigieren, die kryptoreligiöse
Selbstherrlichkeit seiner Sachgebiete überwinden:
„Die betrachtende Sensualität
der Wissenschaft und die aktive der eingreifenden Technik steht nun in einem
richtigen Verhältnis zum religiösen menschlichen Zentrum, der Aufbruch zur Welt,
begonnen seit der Renaissance und nur halb vollendet, wird auf seinen Gipfel
geführt durch den Einzug des menschlichen Körpers als Mann und Weib in das
Allerheiligste der Religion. Wenn der menschliche Körper nicht mehr profan ist,
dann ist es auch nicht mehr die moderne Wissenschaft und Technik. Der Fluch der
Profanität, der bisher auf ihnen lastete, wird von ihnen weichen.“
Hans F. Geyers „Philosophisches
Tagebuch“ ist eine imponierende Aussenseiterleistung, ein grossangelegter
Versuch, der Existenzphilosophie eine neue, zukunftsgläubige Wendung zu geben.
Die auf Harmonisierung abzielenden Ideen des Verfassers entspringen offenbar
jener von ihm persönlich erlebten psychosomatischen Grundbefindlichkeit, die er
als Eupathie bezeichnet. Er weiss sich mit Leibniz, dem Philosophen der félicité
(Ferdinand Lion), wesensverwandt.
Unter den Selbstzeugnissen, die
er zuweilen in das „Tagebuch“ einstreut, findet sich aber auch die
Bemerkung, ein Zug seines Charakters sei Tollkühnheit. Dieses Wort aus
Philosophenmund ist selber ein Beleg für seine Richtigkeit, und ausserordentlich
kühn sind ja tatsächlich viele der Gedankengänge, mit denen Geyer die
Dissonanzen in Weltgefüge und Menschengeist aufzulösen trachtet. Die
Verwirklichung seiner grossen religions- und moralphilosophischen Postulate
gleicht an Schwierigkeit nahezu der Quadratur des Kreises, was das faszinierende
Spiel der Begriffe nicht immer verbergen kann.
Wie er seine elementare
Religion, das „Kontinuum der Offenbarung“ (Titel des dritten „Tagebuch“-Bandes),
gegen die historischen Offenbarungsreligionen zur Geltung bringen will, bleibt
um so problematischer, als er den „Formatstrukturen des Glaubens“,
insbesondere den Glaubenslehren der Kirchen, ein fortdauerndes Lebensrecht
zuerkennt. Unbeantwortet bleibt auch die Frage, was der im Menschen wachsende
Gott bedeuten soll, wenn sich die im bisherigen Sinn naturgesetzlichen
Lebensbedingungen nicht aufheben lassen.
Zu würdigen ist der
tiefdringende Blick für die Wechselwirkung der Polaritäten und für das
unveräusserlich religiöse Wesen des Menschen, hochzuschätzen die mitmenschliche
Gesinnung, die auch der geringen Individuation eine Chance der Entwicklung
einräumt. Ein Nietzsche-Nachfahre ist Geyer zwar in der sendungsbewussten
Sprachgebärde, doch nicht als Moralist. Beachtenswert sind im übrigen
zahlreiche, vom System der Leitbegriffe mehr oder weniger unabhängige
Einzelbetrachtungen, etwa über die Nationen.
Im Geistesleben der Schweiz, die bisher wenig
philosophisches Eigengewächs hervorgebracht hat, ist Hans F. Geyers Werk ein
neuartiges Phänomen. Wird ihm eine dem hohen Anspruch gleichkommende Wirkung
beschieden sein?
Geyer selber lehnt es ab, sich
deswegen zu beunruhigen. Er will ein wahrer Lebensphilosoph, das heisst vor
allem darauf bedacht sein, aus dem eigenen Leben ein Kunstwerk zu machen,
wogegen er den Erfolg der literarischen Bemühung für nebensächlich hält.
Davon, dass er sich immerhin
literarisch bemüht, zeugen die vorliegenden sechs Bücher. Wenn ihm hierbei die
Eupathie treu geblieben ist, so mag ihm wirklich eine Art von Quadratur des
Kreises gelungen sein.
Robert Mächler
Existenz-Philosophie des Leibes
Badener Tagblatt, 6.6.1975
Hans F. Geyer: Gedanken des Leibes über den Leib. Philosophisches Tagebuch, VI,
1974
Das «Philosophische Tagebuch» von Hans F. Geyer, auf das hier schon mehrfach
hingewiesen worden ist, hat mit dem sechsten Band, «Gedanken des Leibes über den
Leib» (Verlag Rombach, Freiburg im Breisgau), seinen Abschluss erhalten. Das
Verständnis des sonderbaren Buchtitels ergibt sich aus der bereits in den
vorigen Bänden entwickelten Existenzphilosophie des Leibes, nach welcher Körper,
Seele und Geist die leibliche. Dreieinheit .bilden. Im Begriff des Leibes sind
also Seele und Geist mitumfasst: der so verstandene Leib denkt über sich selber
nach. Mit ausdauerndem Sendungsbewusstsein bemüht sich Geyer, die Fruchtbarkeit
dieser Anschauung für die künftige Kultur der Menschheit und die Untauglichkeit
entgegenstehender Lehren darzutun.
So unterzieht er im vorliegenden Schlussband den ihn seit langem beschäftigenden
Marxismus einer ausführlichen Kritik. Wie im mittelalterlichen
Spiritualismus das körperliche Aussen des Leibes abgewertet und vernachlässigt
worden sei, so suche der Marxismus das Innen, den Geist und die Seele, zu
ignorieren, obschon er mit dem Aufruf zur Revolution und zum Opfer für sie
Idealismus verrate. Geyer verwirft ihn keineswegs von Grund aus. Er sieht in ihm
sogar «das grösste menschheitliche Versprechen der Philosophie seit Platons
,Staat'», jedoch etwas Unvollendetes, das der Ergänzung durch die
existenzphilosophische Anerkennung der Innenwelt, der sich selber wollenden
vollmenschlichen Individuation bedürfe. Dass es um sinnbewusstes Menschentum
auch in der kapitalistischen Welt misslich bestellt ist, verschweigt er nicht.
«Religiöse Zukunft des Leibes»
Als kühner Dialektiker erweist sich Hans F. Geyer in den anschliessenden
Erörterungen über Natur und Kunst, Natur und Geschichte, organische und
organismische (sich selber reflektierende) Existenz. Zum Verhältnis der
Geschlechter wird etwa bemerkt, die naturnähere Frau lebe und erlebe die
Harmonie der leiblichen Dreieinheit, aber als passive. Aktiv werden könne diese
Harmonie nur durch den religiösen Impuls des Mannes. In der Vorgeschichte sei
sie auf naturnahe Weise verwirklicht gewesen, Durch die Geschichte, vor allem
die. Religionsgeschichte, doch auch durch die logischen Abstraktionen moderner
Wissenschaft, Technik und Wirtschaft und durch die Einseitigkeiten von Geistern
wie Marx, Freud und Heidegger habe sie Schaden gelitten, seien Körper, Seele und
Geist einander entfremdet worden. Mit seiner neuartigen, zwischen Idealismus und
Materialismus vermittelnden Existenzphilosophie möchte Geyer die
Wiederherstellung der Harmonie auf höherer Stufe, die «religiöse Zukunft des
Leibes» vorbereiten: «Die Religion wird erst dann ihre höchste Stufe ereicht
haben, wenn die Dreieinheit des Leibes ihr Gegenstand ist.» Denn das Gesetz des
Göttlichen, erläutert er, sei nicht nur ein psychisches, sondern ein
somatopsychisches: «Das leiblich begründete, das leiblich tiefwurzelnde
göttliche Gefühl ist der eigentliche Träger der elementaren Religion.»
Fruchtbarer Leitgedanke
Die theoretische Stimmigkeit der Philosophie Hans F. Geyers lässt sich schwer
bestreiten. In praktischer Hinsicht dagegen hat sie ihre schwachen Stellen. Es
stimmt ja zum Beispiel, dass sich Marx und Lenin um die Innerlichkeit des
Menschen wenig gekümmert haben. Aber hätten sie geschichtlichen Erfolg gehabt
und damit immerhin einiges Faule in der Welt beseitigt, wenn sie, statt den
revolutionären Klassenkampf ins Werk zu setzen, die Religion der leiblichen
Dreieinheit verkündet hätten? Was diese betrifft, wird man zudem fragen müssen,
ob sie an dem von Geyer gemeinten somatopsychischen Erlebnis des Göttlichen
einen zureichenden Gehalt habe. Die bisherigen Religionen waren doch darum
erfolgreich, weil sie etwas schlechthin Weltüberlegenes, über die
körper-seelische Befindlichkeit Erhabenes lehrten.
Das nun abgeschlossene «Philosophische Tagebuch» Hans F. Geyers ist sicher eine
bedeutende Leistung, zumal als das Werk eines schweizerischen Privatgelehrten,
der im eigenen Lande keine grosse philosophische Tradition hinter sich hat. Der
Leitgedanke hat, wenn man von dem überkühnen Anspruch auf zentrale religiöse
Bedeutung absieht, etwas Einleuchtendes und kann sich auf Einzelne und die
Gesellschaft erspriesslich auswirken.
Robert Mächler