Rezensionen der
"Philosophischen Tagebücher" (1969-74)
Philosophische Tagebücher I - III (Goldschmidt)
Philosophische Tagebücher II - VI (Müller)
Philosophische Tagebücher I - VI (Mächler)
Philosophische Tagebücher (Beringer)

Rezensionen der „Philosophischen Tagebücher“ II-VI, 1970-1974

Von Roland Müller

 

 

Am Wurzelgrund der Sachen schürfend

 

Hans F. Geyer: Arbeit und Schöpfung. Philosophisches Tagebuch II. Verlag Rombach, Freiburg i. Br. 1970

 

Der Autor hat über zwanzig Jahre in der Industrie gearbeitet, verfügt also über eine Praxis, die gerade marxistischen Theoretikern wie etwa Sartre, die gerne von ,Praxis’ sprechen, oft abgeht. Der ganze Inhalt dieses Bandes wurde neben der Berufsarbeit geschrieben, im Zeichen der Parallelität von Beruf und Berufung, von Arbeit und Schöpfung ... Es kann nicht erkannt, es kann nicht erschaut, es kann nur erarbeitet werden. Das Objektive ist eine Leistung, zu der wir aufgerufen sind ... Der Gott des Alten Testaments. schuf die Welt, zugleich aber arbeitete er an ihr während, sechs Tagen.“ Die gegenseitige Erhellung von Philosophieren und Arbeiten im Betrieb ist damit genau so angesprochen wie die. unaufhebbare Zusammengehörigkeit von Arbeit und Schöpfung.

 

Arbeit, Mühe und schöpferische Freude

 

Dergestalt anfänglich dem Grund der Sachen entlang schürfend - ohne allerdings etwa motivationspsychologisch nach dem Woher des Wurzelgrundes zu fragen - pflügt der heute fünfundfünfzigjährige Doktor der Philosophie, der eine Habilitation ausschlug, in einer ungewohnt dichten Sprache den ebenso nahehegenden wie wenig philosophisch durch forschten Bereich menschlichen alltäglichen Arbeitens und Wirtschaftens. Als roter Faden dienen weitere Erkenntnisse: Alles echt Schöpferische muss „auf den Felsengrund der Mühe“ und auf dem „fruchtbaren Erdreich der Wiederholung“ bauen. Fundamentalcharakter der Schöpfung Ist, dass sie Not in Freiheit wendet und dadurch neue Not schafft.

Die persönliche schöpferische Leistung steigt aus der Tiefe der sich wiederholenden gemeinschaftlichen und damit anonymen Arbeit und Mühe. In der Wiederholung verändert sich die Grundstimmung des Menschen; die Wiederholung erschliesst „dem Menschen den Zugang zum spielenden Ernst wie zum ernsthaften Spiel wieder“; in ihr gewinnt er die Dialektik von Spiel und Arbeit zurück. Wiederholung ist ein Abenteuer; sie geht auf die Zukunft.

 

Eine so banal scheinende Weisheit wie „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“ gewinnt auf solchem Hintergrund ein völlig neues Gesicht. Innerste Seele der Industrie - als an sich eines sinnlosen, „rein rationalen Gebildes“ -, der modernen Wirtschaft, ist das christliche Gewissen, die Bibel ihr Fundament. Hans F. Geyer widmet deshalb der „Philosophie der Unternehmung“ – auf der Basis der Überzeugung, dass „der Mensch wesentlich religiös ist“ - ein ganzes Kapitel.

Er weiss, was er schreibt, und man darf sagen: er hat geniale und überraschende Gedanken von enormer Klarsicht. Die Zusammenstellung von Aphorismen und Kurzessays ist ihm einigermassen gelungen. Beharrlich, humorlos und trocken, das diaIektische oder gar paradoxe Prinzip fast zu sehr strapazierend, umkreist er seine weitgespannten - daher auch mit schwächeren Stellen durchsetzten - Themata oft im doppelten Sinne erschöpfend. Er entgeht nicht der Gefahr, sich manchmal zu wiederholen - ausgerechnet auch über „die Wiederholung“ - und trotz aller Praxis in abstrakten und allgemeinen Sphären zu schweben, etwas allzu vage zu bleiben. Das liegt daran, dass es ihm immer ums Grundsätzliche geht, nicht um Ursächliches; das bohrende Warum kennt er kaum. Ihn beschäftigt das gegenseitige Ineinandergreifen von allem, die heraklitische Enantiodromie, die massvolle Mitte. Er gibt Analysen, keine Alternativen, Prognosen oder gar konkrete Vorschläge für die Zukunft.

 

Die Zähigkeit des Ringens um die Sache, nicht um Worte, färbt auf die Sprache ab. So sehr sie sich um das Lebendige, ums tägliche Dasein bemüht, sie wirkt seltsam starr; fast keine Pause ist dein Leser gegönnt; jeder Satz ist wichtig, drängt zum ausführlichen Überlegen und Überdenken. Durch die beinahe absolut zu nennende Sicherheit des Urteils gewinnt das Werk eine geradezu unheimliche Ruhe. Ein Hauch Ewigkeitswert strömt von ihm aus. Immerhin sieht Geyer ein, „dass es viel fruchtbarer ist, unrecht zu haben. Man muss sich erschüttern lassen.“

 

Nach den ersten zwei Kapiteln wird das Gedankengeflecht ein klein wenig lockerer; blutleer bleibt es noch immer. Es werden in verblüffend abgerundeten Stücken der Föderativstaat - der auch das Heterogenste erfasst und umgreift -, das Abendland und Europa (trefflich über Juden, Franzosen und Deutsche), der Bürger, der die Extreme in die Mitte zurücknimmt, wie auch das freiheitliche Ideal oder Paradies (zum Beispiel bei dem auf Rousseau aufbauenden Marx) behandelt: „Der Mensch will die Idylle und erreicht den Terror.“

Wunderschön sind die Kapitel über das Glück, das keine Dauer haben kann, aber überall ist, über die Zukunft, sowie über die Geschlechtsliebe in der Antike und im Christentum. Wesen unseres Jahrhunderts schliesslich ist „die absolute Grösse des Fragments“.

 

Man wird gut daran tun, sich den Namen dieses echten Philosophen zu merken, sollen doch noch. drei weitere solche Tagebücher erscheinen.

 

Roland Müller, Basler-Nachrichten, 30.9.1970

 

 

 

Es gibt keine areligiösen Kräfte

 

Hans F. Geyer: Das Kontinuum der Offenbarung. Philosophisches Tagebuch III. Verlag Rolbach, Freiburg i. Br. 1971.

 

Der Mensch hat nicht nur Religion, er ist Religion ... Die Menschheit schwimmt, wie in einem Fluss, in einem ,Kontinuum der Offenbarung' ..., das immer zugleich Anfang und Ende, Innen und Aussen ist.“

Hans F. Geyer, der Zürcher Philosoph mit der 20jährigen Praxis in der Industrie, nimmt Witterung nach der Religion nicht als Name, sondern als alltäglichem Faktum, als elementarer Tatsache, als Lebensluft und -licht des Menschen auf.

 

Was ist der Atheismus? Ein religiöser Akt des Atheisten. Was ist der Materialismus? Ein religiöser Akt des Materialisten.“ Das bedeutet: „Es gibt keine Areligiosität aus dem gleichen Grunde, wie es in der Natur das Nichts nicht gibt.“ Religion ist mithin allgegenwärtig, wie die Natur lebendig und unumgänglich. Sobald sie aber in die Hände der Tempeldiener und Hohepriester gerät, verfestigt sie sich zu einer „Bürokratie des Heils“, zur historischen und positiven, d. h. geltenden Religion.

 

Man wünschte sich entweder mehr Schärfe oder Bitterkeit oder dann das Persönliche und die Frische des ersten Bandes des „Philosophischen Tagebuchs“. So aber bleibt nur die Zähigkeit - wie in Band II - zu konstatieren, eine gewisse Unverbindlichkeit auch.

 

Immerhin bleibt aber die selbständige Denkweise von Geyer erneut zu loben, die Räume und Zeiten mühelos überspannt. Seine Ansichten sind eigenwillig und keinem System, keiner Schulphilosophie verhaftet. Seine Sprache ist kultiviert, jedes Wort wird an seinen genau bestimmten Platz gesetzt. Fast zu eng unter das Joch der Sache gespannt, sind die Formulierungen aber schmucklos, weder feuilletonistisch noch brillant, ganz einfach rational, nüchtern. („Nüchternheit wohl, aber Nüchternheit als Magd der Begeisterung.“)

 

Von einer viel tieferen Gestimmtheit als religiöser Schwärmerei getragen, analysiert Geyer die Dialektik zwischen Mensch und Gott: Der Mensch wächst und erkennt sich in Gott, so wie Gott im Menschen wächst und sich erkennt. Gott ist die anthropomorphe Projektion, Geschöpf (oder Hilfsbegriff) des Menschen, so wie der Mensch das Projekt Gottes ist. „Die Evolution Gottes ist auch die Evolution des Menschen. Gottes Mythos ist des Menschen Mythos.“ Geht Gott unter die Menschen, wird er Person.

Da Religion Hoffnung und Erwartung bedeutet, ist Gott „zugleich unser und nie unser, weshalb auch jegliche Offenbarung unsere und nie unsere ist“. Gott ist also nicht nur das absolute Gegenüber, sondern er ist auch auf den Menschen angewiesen, er kann nur durch den Menschen leben und zu sich kommen: „Die Offenbarung und ihre Kontinuität' ist die Wirklichkeit seiner Möglichkeit.“

 

Was das spiralförmige Einkreisen dem Probleme durch Geyer so schwer zu lesen macht, ist die konsequente Durchführung des Sowohl-als-auch-Prinzips: Der Zufall ist Notwendigkeit, und das Gesetz der Notwendigkeit wird durch den Zufall ausgelöst; die Bibel ist Menschenwerk, aber auch Gottes Werk; „der Mensch müsste endlich einmal lernen, im Absoluten relativ zu denken und im Relativen absolut“. Diese Feststellungen sind aber .kein Begriffsmus mit verwischten Konturen, sondern polar gegeneinander abgestützt, bekennt doch Geyer: „Ich glaube nicht, dass es je .gelingen wird, die Scheidewand zwischen Wissen und Glauben, Theorie und Praxis, Wissenschaft und Ethik einzureissen.“ Dass diese Trennungswand durchlässig ist , wird gleich ergänzt.

 

Wie ein Ariadnefaden durchzieht Geyers Religionsphilosophie die Auseinandersetzung mit der Pseudoreligion des Marxismus-Leninismus, welche in einem Akt der Verzweiflung die Partial-Erkenntnis des Homo oeconomicus verabsolutiert. „Die Verabsolutierung soll dem Menschen erlauben, über die Zukunft zu verfügen“, geht also auf einen magischen Glauben zurück. Statt dass der Mensch in den Fluss der Geschichte steigt, soll die Geschichte durch das Wort in die Bahn gezwungen werden.

 

Trotz aller Langatmigkeit - als Folge jahrelangen Ringens um das, was Quell und Kern, und das, was Schale, Formalstruktur oder Panzer - ist diese Sammlung von Aphorismen und Kurzessays, in 14 Kapiteln streng geordnet und doch durch unablässige Wiederholungen eng verzahnt, in immer neue Verbindungen gesteigert, trotz fast zu grosser Ausgewogenheit auch, sind diese scharf behauenen Gedankenblöcke ein neues Bild des Menschen. Ein Bild des durch und durch religiösen Menschen, den weder Irreligiosität, Dogmatismus und Atheismus, noch der Cäsaropapismus oder die „Wissenschaftskirche“ zu vernichten vermag.

 

Immer wieder bricht, wie Lava, das glühende Innere nach aussen, verbreitet das vulkanische Feuer Licht. Bei Geyer geschieht das etwa im Kapitel „Katharsis“, dem eigentlichen Höhepunkt dieses Buches, das in „Religion und Sexus“ weitergeführt wird und mit den Sätzen schliesst: „Was bedeutet die Idee der Weltreligion? Die Heteronomie Gottes nähert sich der Autonomie des Menschen, der Wille der Vernunft, die Transzendenz der Immanenz, der gott-menschliche Mythos dem mensch-göttlichen Logos, ohne je miteinander zu verschmelzen.“

 

Roland Müller, Basler Nachrichten, 9.6.1971

 

 

Kybernetische Existenzphilosophie des Leibes

 

Hans F. Geyer: Biologie der Logik. Philosophisches Tagebuch IV. Verlag Rombach, Freiburg i. Br. 1972

 

Was man bei einem Tagebuch kaum erwartet, ist ein bis in die letzten Verästelungen des denkerischen Bemühens durchgehaltener systematischer Aufbau. Dem in der Nähe von Zürich lebenden, heute 57jährigen Schweizer Philosophen Hans F. Geyer ist solches in beeindruckender Weise gelungen.

Gerd-Klaus Kaltenbrunner vom Rombach-Verlag in Freiburg im Breisgau hat das Wagnis unternommen, diese weitab vom Herdengeläut in bewundernswerter Selbständigkeit unternommenen Aufzeichnungen herauszugeben, was ihm hoch anzurechnen ist. Bereits liegt Band IV dieses Tagebuchs vor, der mehr als nur die Einführung zum Band V bildet: Er stellt, obzwar später geschrieben, die Brücke zwischen den ersten drei Bänden und dem hoffentlich nächstes Jahr erscheinenden krönenden Hauptwerk dieses in seiner Art einzigen philosophischen Unterfangens dar.

 

Wenn der Titel ursprünglich „Existenzphilosophie des Leibes“ heissen sollte, deutet das auf das zentrale Anliegen hin: der Leib als Dreieinheit von Körper, Seele und Geist und damit als Ursymbol und religiöses Zentrum sowie die Gretchenfrage „Wie hältst Du's mit der Existenz?“ (Vorwort zu Band I).

Mit der zunehmenden Strenge im Gang der Tagebücher wird die Lektüre freilich immer schwieriger; man muss sich ganz sachte einlesen, auf dass sich Gemüt wie Verstand erfreuen. Die minuziöse Gliederung folgt ja nacht einer Chronologie, sondern ist dialektisch, gewissermassen kybernetisch, Sie stellt die Anwendung der Theorie der Regelkreise auf Erkenntnistheorie (Teil I: „Logik“), biologische Anthropologie (Teil II: „Biologik“) und Religionsphilosophie (TeiI III: „Biologie der Logik“) dar. Gleichzeitig aber ist das Werk von einer Reinheit und Helle der Sprache, dass sich Horizonte unermesslicher Fülle an Höhe und Tiefe, Nähe und Ferne ausbreiten, von denen eine Rezension kaum eine Ahnung vermitteln kann.

 

Wissenschaft und Religion

 

Die Innenwelt des Menschen ist der Gegenstand seins Glaubens, die Aussenwelt Gegenstand der Theorie. In beiden Sphären gibt es Bestimmtes wie Unbestimmtes, die sich als Sein und Sinn, als Logos und Mythos ineinander beschränken.

Was ist für Geyer Logos und Mythos? Es sind Grundhaltungen mit Dominanten, einerseits des Erkennens, anderseits des Tuns. Diese beiden aber gehören, da nichts voneinander trennbar ist, zusammen: „Der mythische Mensch tut, um zu erkennen, der logische Mensch aber erkennt, um zu tun“ (Seite 32). Deshalb weist auch die Wissenschaft mythische und logische Komponenten auf. Erstere bestehen in der transzendentalen Wahl des Gegenstandes, dem die Aufmerksamkeit der Wissenschaft gilt, sowie im Zukunftsbezug, letztere im formallogischen Streben nach Klarheit und Ordnung im Begriffshaushalt. Der Mythos und der Logos der Wissenschaft bedingen sich dabei gegenseitig so, dass sie ein Geschehen, ein geistiges Leben sind.

 

Da eben der Mensch, was immer er auch tut; ganz tut -, und wenn er wie in der Wissenschaft nur Teilgebiete behandelt - muss er die Verfolgung wissenschaftlicher Ziele mit der mythischen Komponente in Übereinstimmung bringen. Das kann geschehen, „wenn die Evolution des wissenschaftlichen Logos in sinnvolle Beziehung gesetzt wird zur Evolution des religiösen Mythos, wenn also der Vorsatz besteht, nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Religion, nicht nur das Wissen und sein Vermögen, den Glauben und sein Vermögen zu entwickeln. Dann erst geht der Mensch wirklich wieder auf zwei Beinen, wie heute, hinkend auf dem einen Bein des Wissens und hinkend auf dem andern des Glaubens“ (Seite 53).

 

Die Wissenschaft hat also ihre Sprache des Seins in, eine Sprache des Sinns zu verwandeln; sie muss, was für sie blosses Sein ist, auch in seiner Bedeutung sehen; sie muss ihr formales Wissen in schöpferisches verwandeln. Der vorwärtsschreitende Logos muss wieder in den Mythos eingehen, aus dem er hervorgegangen ist, damit dieser Schritt halten kann. Denn: „Die Seele bleibt dunkel ohne das Licht der Welt, die Welt dunkel ohne das Licht der Seele“ (Seite 78).Oder: „Keine Seele ohne Sinn, kein Sinn ohne Seele“ (Seite 114).

 

Es gibt bei Geyer nichts Isoliertes, sondern .ein jedes ist die Ergänzung des andern; keines ist aufs andere reduzierbar. Das verhindert und verbietet Einseitigkeit, mag auch das eine dem andern ursprünglich vorausgehen wie der Mythos dem Logos, die transzendentale Intention der formalen, die psychische Abstraktion der logischen. Aus dem Hervorgehen ergibt sich aber auch ein Zurückgehen, das Heimführen, mithin eine unendliche dialektische Dynamik, in der Bestimmtes und Unbestimmbares, Festes und Fliessendes, Endliches und Unendliches als lebendiges Ganzes ihren natürlichen und geschichtlichen Verlauf nehmen. Freilich: „Nichts fällt dem Menschen schwerer, als in der Mitte zu bleiben“ (Seite 119), also im transitiven Denken vom einen zum andern und vom andern wieder zum einen zu gelangen, den „kosmischen Riss zwischen Innen und Aussen“ (Seite 139, 142) zu verbinden, und zwar – wie Geyer es sehen möchte - durch den Leib als Idee des Menschen (Seite 152).

 

Die „überall anwesende Dreieinheit des Leibes“ (Seite 154) aber ist Gott, aus dem kosmischen Riss für den Menschen hervorgetreten, als Vorstellung zusammen mit der mythischen und logischen Abstraktion, zusammen also mit Religion und Wissenschaft. „Gott ist die organismische Bedingung der Möglichkeit des Menschen“ (Seite 248).

 

Naturgeschichte - Geschichtsnatur

 

Was Geyer dann aus der Entdeckung der „genetischen Schrift“ der Desoxyribonukleinsäure entwickelt, ist schlechthin meisterhaft: Die Bindung von Seele und Geist an den Körper und an dessen Erbinformation und somit die Bindung der Freiheit an die Notwendigkeit. „Der Körper, begriffen als Individuation, wird somit zur transzendentalen Bedingung der unendlichen und endlichen Möglichkeiten von Seele und Geist“ (Seite 133), und die Geistesgeschichte ist nichts anderes als die Naturgeschichte des  Geistes, „Manifestation der Erbinformation im Lichte der Geschichte“ (Seite 141).

 

Das hängt mit der „Satellitenstruktur des Leibes“ zusammen, was besagt, dass Seele und. Geist auf Bahnen den Körper umkreisen, wobei die mehrfältige Gefahr besteht, dass die Seele oder Seele und Geist zum Körper zurückfallen; oder dass der Geist oder Geist und Seele sich zu weit vom Körper entfernen. Seele und Geist, sind Organe und Schöpfer des - im Gegensatz zur Erbinformation - „zweiten genetischen Systems“, also von Tradition, Zivilisation, Kultur.

Wie aber keines ohne das andere zu bestehen vermag, die Materie nicht ohne das Leben, die Form nicht ohne Inhalt, das Innen nicht ohne Aussen, die Natur nicht ohne Geist und umgekehrt, das bildet den „Regelkreis der Biologie der Logik“.

Dieser biologische Regelkreis, der das zweite genetische System gegen das erste, das unabhängige Bewusstsein des Menschen gegen sein Sein setzt und einsetzt, spielt nicht erst in der Geschichte, sondern bereits in der Vorgeschichte, also seit der Mensch physische Werkzeuge und sein geistiges Werkzeug (die Sprache) besitzt“ (Seite 176). Die geschichtliche Entwicklung ist dabei keine geradlinige Bewegung, „sondern eine Kurve, eine Kurve im Raum, eine Spirale“ (Seite 203).

 

Leider verbietet es der knappe Platz, Geyers Konzeption des aus der mythischen und logischen Abstraktion hervorgegangenen göttlichen und gottlosen Gottes, welche beide einander fordern und herausfordern, einzugehen. Es ist ein grandioser Versuch, die in Teil I und II bewährten Gesetze der Kybernetik auf die Religionsphilosophie anzuwenden: „Das Leben steuert die Religion, die Religion das Leben“ (Seite 231). Das Wort wird Fleisch, aber auch das Fleisch wird Wort. Der Bios der Logik ist der göttliche Steuermann; er heilt die kosmische Wunde des Menschen (Seite 255).

 

Wer an der gegenwärtigen Menschheit leidet, darf nicht an diesem bisher schönsten und reifsten Buch des grossen Schweizer Philosophen vorbeigehen.

 

Roland Müller, Zürichsee-Zeitung 24.11.1972; Der Landbote/Winterthur 6.1.1973

 

 

 

Ein zeitgenössischer Schweizer Philosoph

 

Hans F. Geyer: Dialektik der Nacktheit. Philosophisches Tagebuch V. Verlag Rombach, Freiburg i. Br. 1974.

 

Die ebenso beharrliche wie virtuose Handhabung eines dialektischen Schematismus kennzeichnet auch den fünften Band des „Philosophischen Tagebuchs“ von Hans F. Geyer. Diese religiös-praktische Verfahrensweise, im Unterschied vom analytischen Vorgehen als einem wissenschaftlich-theoretischen, hat in zunehmendem Mass die Aufmerksamkeit der Fachweit auf sich gezogen. Nicht nur konnte Hans F. Geyer seine Ideen über Marxismus an den Tagungen der jugoslawischen „Praxis“-Philosophen auf der Insel Korčula vortragen, sondern er wurde dieses Wintersemester auch für eine Vorlesungsreihe . an die Universität Tübingen eingeladen

 

Tatsächlich verdient das sich rundende Oeuvre Hans F. Geyers, von dem seit 1969 jedes Jahr ein Band im Verlag Rombach, Freiburg i. Br., erscheint, Beachtung und Bewunderung. Die unnachahmliche Selbständigkeit und Originalität dieses Zürcher .Denkers reiht ihn unzweifelhaft in die kleine Schar grosser Schweizer Philosophen ein. Es steckt ein .umgreifendes Bemühen und eine beherrschte Kraft hinter diesen geistigen Höhenflügen, die ihresgleichen suchen.

Da wird nichts nachgeplappert, da werden weder kurzlebige Einfälle noch Wortklaubereien zum besten gegeben, sondern da werden mit gewaltigem, aber nicht brutalen, vielmehr fast zärtlichem Griff Welten und Zeiten zueinandergebracht und verknüpft, da werden Horizonte eröffnet, dass der Leser gemeinsam mit dem Autor zum echten, ewigjungen Staunen gelangt. Ein Erlebnis für beide.

 

Das filigranartige Gedankengeflecht reicht trotz dem Titel “Dialektik der Nacktheit“ weit über diese Nacktheit als „Kleid der Kleider“ hinaus. (Der ursprüngliche Titel hiess “Die Inkarnation“.) Es überspannt im Bogen einer Geschichtsphilosophie sowohl Natur- wie Kulturphilosophie und vollendet sich stets in einer Religionsphilosophie.

 

Wer „Aufklärung“ über Nudismus, Pornographie und das Obszöne erwartet, sieht sich getäuscht Diese Erscheinungen werden in einigen knappen Sätzen an ihren Platz gestellt, oft sogar indirekt. Worum es geht, ist vielmehr die „elementare Religion“ deren Verschüttung und Verstümmelung durch Jahrhunderte und deren notwendige Wiedergewinnung in einer spiraIförmigen Bewegung, die vorwärts-aufwärts zum Ursprung zurückführt. Das kann nur in der Zusammenführung von Antike und Christentum und in ihrer beider Versöhnung mit der Moderne auf dem Boden Europas geschehen.

 

Mit dem Konflikt der Wendung nach aussen (bei den Griechen) und nach innen (bei den Juden) beginnt das Abendland. Dieser fruchtbare Widerspruch zwischen der höchsten Ausbildung der Körperseele und der Geistseele, zwischen Sensualismus und Spiritualismus, „der in die europäische Tiefe getrieben hat, treibt und immer wieder treiben wird, ist die Substanz der abendländisches Geschichte. Gleich gewaltig nach innen und nach aussen gewendet! Es ist die Devise Europas.“ Diese Zweiheit muss zur Einheit werden, Sein und Sinn, aber auch Natur und Kunst müssen zu einer dynamischen „Einheit der Aktivität von Religion und Wissenschaft“ konvergieren, aber auch zur Totalität von Körper, Seele und Geist führen.

 

Das Leitmotiv

 

Leitmotiv bei dieser Unternehmung und infolgedessen auch bei Hans F. Geyer ist der „metaphysische Conatus“ (Drang), das heisst erstens die religiöse Entscheidung des Tiers zum Menschen, zweitens das Streben, mit der Phantasie die Schranken der Zeit zu durchbrechen, und damit drittens Gott als Möglichkeit des Menschen, der Mensch als Möglichkeit Gottes. Denn: „Gott will zum Menschen, der Mensch zu Gott.“

 

Der Triumph der Vernunft; die heutige Logokratie, fordert den Instinkt des Lebens heraus: „Je künstlicher der Mensch lebt, desto natürlicher muss er auch werden.“ Richtlinien hiefür sind die „regulativen Ideen“. Deren wichtigste sind die Idee des Menschen, nämlich „die Idee der gottmenschlichen, menschgöttlichen leiblichen Dreieinheit“, sowie die Idee der Ideen, „der nackte menschliche Leib, die Form der Formen“.

 

Der fünfte Band des „Philosophischen Tagebuchs“ übertrifft an Fülle der Themen und Einsichten die früheren Bände, ist daher weniger geschlossen, auch weniger brillant. Er ist, ungeachtet des Aufbaus, weniger durchkonstruiert, dafür poetisch komponiert, mit zahlreichen Wiederholungen, Pausen und Wiederaufnahmen von Motiven aus den früheren Bänden: die Musik einer Philosophie, „wiedergeborene Leidenschaft, erstanden, auferstanden aus den Tiefen der Zeit“.

 

Roland Müller, Tages-Anzeiger/Zürich, 21.2.1974

 

 

 

Kommunismus und Kapitalismus aus der Sicht eines Schweizer Philosophen

 

Hans F. Geyer: Gedanken des Leibes über den Leib. Philosophisches Tagebuch VI. Verlag Rombach, Freiburg i. Br. 1974

 

Was unterscheidet den Kommunismus vom Kapitalismus. und worin treffen sie sich? Eine Antwort auf diese Frage von einem Schweizer Philosophen zu vernehmen, das ist von besonderem Interesse, da die Zahl der  Philosophen in der Schweiz nicht gerade gross ist und sich von dieser kleinen Gruppe wiederum nur einige wenige Denker überhaupt dazu geäussert haben.

 

Hans F. Geyer ist zur Behandlung dieses Themas besonders berufen, hat er doch vor einigen Jahren an der jährlichen Versammlung der jugoslawischen “Praxis“-Philosophen und ihrer westlichen Kollegen und Sympathisanten auf der Insel Korčula teilgenommen und daselbst auch einen Vortrag gehalten, der grosse Beachtung fand. Da diese „Praxis“-Philosophen nun der politischen Ächtung anheimgefallen sind, wird es um so aufschlussreicher sein, in absehbarer Zeit lesen zu können, was Hans F. Geyer in seinen Korčula-Erinnerungen über die „Grundlagen des Marxismus“ zu berichten hat.

 

Das hier vorzustellende Buch mit dem Titel „Gedanken des Leibes über den Leib“ bildet einerseits hiefür eine Vorstufe und beschliesst anderseits die sechsbändige Reihe des. Philosophischen Tagebuchs“, dessen Publikation 1969 begann und von dem seither - in der Geschichte der schweizerischen Philosophie ein ebenso seltenes wie auffallendes Ereignis -präzis jedes Jahr ein neuer Band erschienen ist.

'

Die Frage nach Kommunismus und Kapitalismus muss auf dem Hintergrund der ausserordentlich eigenständigen und in ihrer Originalität ausgereiften Philosophie des Zürchers Hans F. Geyer gesehen werden. Ihr Angelpunkt ist die Ausfaltung und Analyse der „Dreieinheit des menschlichen Leibes“, also der Dreieinheit von Körper; Seele und Geist. „Gedanken des Leibes über den Leib“ bedeutet dann: Wir denken mit dem ganzen Leib, nicht nur mit dem Gehirn! Die Gedanken sind Produkte der leiblichen Dreieinheit von Körper, Seele und Geist. Das denkende Hirn ist oft nur die ausführende Instanz; es nimmt auf und fasst zusammen, was aus der Tiefe des Leibes aufsteigt. „Der Geist folgt, folgt getreu der Bewegung der Leibes. Er ist damit noch nicht die Marionette des Leibes, oder nur insofern, als die Notwendigkeit leiblicher Bestimmung in ihm selbsttätig wird. Denn die Bewegung des Leibes ist auch die Bewegung des Geistes.“

 

Kapitalismus wie Kommunismus gleichen sich nun darin, dass sie beide der Idee des menschlichen Leibes zu wenig Rechnung tragen, nämlich der tief in der „organisierten Materie des Lebens“ wurzelnden Individuation, der „Innenwelt der Form“. Der Mensch ist Mensch, weil er Mensch ist, nicht, weil er in Funktion der Aussenwelt Mensch ist. Kapitalismus und Kommunismus unterscheiden sich einzig in der Art, wie sie diese Individuation ignorieren. Der kapitalistische Staat ist ein laizistischer, das heisst er beruht auf der Scheidung hie Kirche, hie Staat. „Die Leibverachtung der christlichen Kirche überliess die ‚Leiber’ der Menschen dem Staat, die Seelenverachtung der Aufklärung die ,Seele’ der Menschen der Kirche. Dadurch wurde die leibliche Dreieinheit von Körper, Seele und Geist auseinandergerissen; der Mensch ist nun kein Ganzes mehr in der kapitalistischen Gesellschaft, weder in der kirchlichen noch in der politischen Gemeinschaft.“

 

Der kommunistische Staat ist ebenfalls laizistisch, jedoch absolut, nicht tolerant, das heisst er duldet keine tradierte Religion mehr neben sich. So wird die kommunistische Gesellschaft zu einem „materiellen Priesterstaat“, dessen Allerheiligstes die Produktionsziffern sind. Mit seiner charakteristischen Blindheit für das religiöse Phänomen hat der Marxismus das Innen abgeschafft, somit den Menschen als zugleich Innen und Aussen, den Menschen als Leib also, aufgehoben: „Das ist der tiefere Grund, warum das Aussen in der kommunistischen Gesellschaft so tyrannisch herrschen kann; .warum das Plansoll den Menschen verschlingt und nicht erlöst ... Er wird selbst zur Maschine, selbst zum Golem des ungeheuerlichsten Kapitalismus - Staatskapitalismus - aller Zeiten, was den unheimlichen Eindruck des roboterhaften, des ferngesteuerten Aussen-Innen, den die russischen Apparatschiks der Politik, der Diplomatie, der Wirtschaft und Information machen, erklären mag.“

 

Kapitalismus wie Kommunismus verkennen also die Idee des Menschen als Idee seines dreifaltigen Leibes, die sowohl das Innen wie das Aussen, Freiheit wie Gebundenheit umfasst. Diese Idee verwirklicht sich oder erhält Leben durch die Individuation des Individuums. Und diese Individuation vollzieht sich in der Gemeinschaft, ja stiftet erst die Gesellschaft. Die Abwertung des Körpers durch den christlichen Spiritualismus führte jedoch „zur Einsperrung der Individuation im Innern des Leibes, zur Absperrung von der Welt; die Aufwertung des bloss materialistisch, nicht auch ideell verstandenen Körpers als ‚Anstalt der Bedürfnisse’ durch den Kapitalismus und den Marxismus zur Einsperrung der Individuation im Aussen, zu ihrer Absperrung gegen die wertsetzende, gegen die moralische, ethische und religiöse Seele“.

So ist für das Individuum in der kapitalistischen Gesellsellschaft der Staat Mittel zum Zweck, während in der kommunistischen Gesellschaft der Staat das Individuum als Mittel zum Zweck begreift. In beiden Gesellschaften hat das Materielle eine Bedeutung erlangt, die es weder in der antiken Gesellschaft noch in der christlichen Gesellschaft des Mittelalters hatte: „Das System der Bedürfnisse wird vergöttlicht.“

 

Was heute fehlt, ist „die religiöse Inspiration, die mit beiden Füssen auf der Erde steht, auf der Erde des menschlichen Leibes, der leiblichen Dreieinheit, auf deren naturwissenschaftlichem Fundament. Die Aufklärung, deren Kinder Kapitalismus und Kommunismus sind, ist gegen den Himmel angerannt und findet die Erde als Gegner vor, sie hat gegen die Religion gekämpft und gerät in den Konflikt mit der Wissenschaft.“

 

In solch bildkräftiger Sprache breitet Hans F. Geyer seine philosophischen Analysen vor dem Leser aus. In grossen, in sich zurücklaufenden Bögen entfaltet er mitunter recht harte Kritik an beiden Gesellschaftssystemen, und zwar nicht an deren Auswüchsen oder Schwächen, sondern im Grundsätzlichen. Dies zeigt sich auch darin, dass dieser ebenso gelehrte wie eigenwillige Philosoph nach dem ersten Drittel dieses Buches die Themen frührer Bücher (zum Beispiel „Dialektik der Nacktheit“ und „Biologie der Logik“) wieder aufnimmt, weiter vertieft und in einer grossartigen Philosophie der Leiblichkeit zu einer vollen „Existenzphilosophie des Leibes“ abrundet, worin sogar die Pornographie und der Leistungssport, aber auch etwa der Umweltschutz ihren Platz haben: „Was not tut, ist eine .prinzipielle Umkehr. Der Umweltschutz aus rein materiell-utilitaristischen Gründen genügt deshalb nicht, weil ein solcher Schutz immer zu spät kommt: Er hinkt hintendrein - hinter der Katastrophe.“

Existenzphilosophie des .Leibes bedeutet, „dass jede existentielle Regung nicht nur Theorie, sondern auch Praxis, auch Handlung, nicht bloss Gedankenhandlung, sondern auch Handlung des Leibes sein muss“. Was der Geist denkt, das muss er auch tun. „Wenn ‚existere’ ‚sich herausstellen’ heisst, wohin, woanders sollte sich die Existenz herausstellen, als in den Raum des Leibes? Erst dort überwindet sie ihr ‚an sich’ und ihr ‚für sich’, erst dort überwindet sie ihren Moralismus, gedeiht sie zur Sittlichkeit.

 

Hans F. Geyers mit dem vorliegenden Band in dieser Form zum Abschluss gelangtes Riesenwerk ist Lebens-, Kultur-, Geschichts- und Religionsphilosophie in einem, getragen von einem Ethos, dem Ethos der Ganzheit, des Sinns. Denn hinter diesen weitausgreifenden Bemühungen steht die Erkenntnis: „Der Mensch will nicht überhaupt nur leben, nicht nur das ‚dass’ seines Lebens ist ihm wichtig, sondern auch dessen „was’, nicht nur das Sein seines Lebens, auch dessen Sinn, nicht nur seine Existenz, auch deren Essenz.“

Deshalb wird der über die heutige Lage besorgte existentielle und essentielle Denker, der es mit der Individuation ernst meint, auf die Frage nach der Beurteilung einer Gesellschaft antworten: „Man zeige mir den Menschen, den sie hervorgebracht hat, besser: der in ihr wirklich und möglich ist, nach ihm ist sie zu beurteilen.“

 

Roland Müller, Zürichsee-Zeitung, 14.3.1975; leicht gekürzt in Der Landbote/Winterthur, 9.8.1975

 

Biografisches
Presse
Kritiken 1
Kritiken 2
Gesamtwerk
E-mail
Geyer-Forum
                      Copyright © 2002 by Hans F. Geyer-Stiftung                                                                     created by best4web