Hans Rütters Grundriss der philosophischen Anthropologie
Von Guido Schmidlin
Für das Zürcher Kolloquium Philosophielehrer an
Mittelschulen, 23. September 1988
Das Korpus von Hans Rütters Texten (publiziert unter dem
Pseudonym Hans F. Geyer); besteht zur Hauptsache aus neun Büchern, die zwischen
1969 und 1985 mit Ausnahme der beiden zuletzt entstandenen veröffentlicht worden
sind. Die Entstehungszeit der ersten Bände reicht, wie aus Andeutungen zu
entnehmen ist, in die frühen sechziger Jahre zurück, also vor das Jahr 1964,
seit welchem Rütter als freier Schriftsteller lebte.
Früher erschienen die Dissertation "Fichte, Schelling und
Hegel. Ein philosophisches Gespräch" und die Aphorismensammlung "Der
Lastträger".
Die neun Bücher sind nach Rütters eigener Angabe als drei
Trilogien aufzufassen. Das Thema bleibt sich darin gleich. Auch in der
thematischen Reihenfolge. sind sie ähnlich angelegt: Im ersten Buch jeweils
erkenntnistheoretische Überlegungen, im zweiten "die Sache selbst", im dritten
deren Anwendung in praktischer Vernunft. Von Mal zu Mal aber wird der
philosophische Grundriss deutlicher und der Gehalt konkreter. Im dritten Teil
der ersten Trilogie mit dem Titel "Kontinuum der Offenbarung" verändert
sich die Darstellungsweise, Aphorismus und Kurzessay weichen zusammenhängender
Darlegung, ein Durchbruch, der als innersten Antrieb von Rütters Schaffen die
religionsphilosophische Fragestellung verrät.
Das Werk im Ganzen beschlägt das Gebiet der philosophischen
Anthropologie, wie es sich seit Darwins "Abstammung des Menschen" um die
zentrale Frage formiert, wie einerseits die Genese des Menschen evolutionär
gedeutet, anderseits seine Sonderstellung als Wesen von Geist und Bewusstsein
berücksichtigt werden kann. Von philosophischer Anthropologie zu sprechen hat
den Sinn, dass zur Bearbeitung dieser Frage die Philosophie als solche eine
neue, der Fragestellung entsprechende Gestalt annehmen muss. Die Frage lässt
sich nicht im Rahmen bestehender Philosophie als Einzelfrage behandeln, sondern
nimmt den Rang einer neuen Grundfrage ein. Sie ist die Reaktion des Denkens auf
die "kopernikanische Wendung", welche die Evolutionstheorie herbeigeführt hat.
Die erste Annäherung an die originelle Stellung, die Rütter
als anthropologischer Philosoph einnimmt, eine erste Ortsbezeichnung seines
Denkens sei mit dem Hinweis gegeben, dass er die Prägung, die er von der
Transzendentalphilosophie vor allem Kants erfahren hat, in die mit der
Evolutionstheorie sich einstellende Problematik mitnimmt, indem er versucht,
Kants transzendentales ego durch seinen neuen Grundbegriff der Leiblichkeit, des
ideellen Körpers zu ersetzen. Gelegentlich beruft er sich auf „die grosse
Vernunft des Leibes", von der Nietzsche spricht. Die Begrifflichkeit, die
sich in der Folge dieser Übertragung entwickelt, bleibt kritisch und ermöglicht
so die Abwehr reduktionistischer Auffassungen der evolutionären Genese des
Menschen und der damit zusammenhängenden Ideologien, etwa des Sozialdarwinismus.
Ein wichtiger Unterschied zu Kant ergibt sich daraus, dass
Rütter das specificum des Menschen nicht im Besitz des Logos, sondern des Mythos
feststellt und dass er damit nicht dem Bewusstsein, sondern dem Unbewussten, aus
welchem die mythische Produktion hervorgeht, den Vorrang gibt. Er führt in "Kontinuum
der Offenbarung" in dieser Absicht den Begriff der "elementaren Religion"
ein zur hauptsächlichen Unterscheidung des Sonderwesens des Menschen. Damit
stellt er sich in die Tradition des der Auseinandersetzung mit der
Evolutionstheorie und dem evolutionären Natur-Paradigma entwachsenen
Philosophems des "werdenden Gottes" (vgl. W. R. Corti "Die Mythopoese des
werdenden Gottes" 1953). Bergson, Scheler, Whitehead, Teilhard de Chardin haben
es auf je eigene Weise erkenntniskritisch, metaphysisch, platonisierend und
christologisch entworfen.
Von Max Scheler sei hier die kurze Formulierung des Entwurfs
angeführt: "Wir glauben an die Vollendung der Welt in Gott und an Gottes
Realisierung und Selbsterlösung durch seinen Actus des Weltprozesses hindurch.
Wir wirken nicht an endlichen Dingen - sondern ‚im’ Unendlichen, ‚am’
Unendlichen selber.
Wir wollen nicht Seligkeit und Contemplatio Gottes; wir
wollen ‚wirken’ in Gott und für seine Idee von sich selbst. Wir glauben, dass
unsere geistige Tat in Gott fortwirkt und für alle endlichen Wesen getan ist.
Wir sind reif zu ertragen einen unvollendeten, einen
ringenden, leidenden Gott - wir können ihn lieben erst, seit wir wissen, er sei
im Grossen unseres
gleichen." (Mensch als werdende Gottheit 1924,. S. 250, Schriften aus dem
Nachlass Bd. III: Philosophische Anthropologie 1987).
Im Zusammenhang mit dem Betriff der elementaren Religion und
ihrer Bedeutung für die Genese des Menschen finden sich die basalen Gedanken,
welche Rütters philosophische Position festlegen. Elementare Religion entsteht
nicht als eine Projektion des Menschen, sondern sie ist das "Projekt"
Mensch selbst, eine der grossen Projektionen der Evolution der Biosphäre, wie
der Chemismus der Pflanzen und die animalische Sensibilität. Die Natur bringt
evolutionär im Menschen elementare Religion, d.h. die Gottesvorstellung hervor.
Mit dem Menschen emergiert Gott in der Natur als Idee. Die Emergenz ereignet
sich nicht innerhalb der Geschichte des Menschen, sondern als die Geschichte des
Menschen. In dieser Geschichte entfaltet sich der Mensch in seinen Möglichkeiten
als Gottgestalter. Er eröffnet in dieser Weise seine Geschichtsnatur als eine
Phase der Naturgeschichte. Die Fülle der Entfaltung seiner gottbezogenen
Möglichkeiten ist der massgebende Wert, gleichbedeutend mit der integralen
Ausbildung des dreieinigen Leibes in Körper, Seele und Geist. Da im Menschen
Pflanzliches und Tierisches erhalten bleibt, wird der ideelle Sinn seiner
Geschichtsnatur zum Gesamtsinn der Evolution.
Die Tatsache, dass zum Leib das Bewusstsein gehört,
strukturiert als individuelles Ich-Bewusstsein, führt zum Begriff der
Individuation. Die Ontogenese des Menschen vollzieht sich im Medium seiner
bewusstseinsbezogenen Geschichtsnatur, die im Genom angelegten angeborenen
Verhaltensweisen werden überlagert vom "zweiten Genom" der kulturellen
Tradition. Sie übermittelt die individuell erworbenen Erfahrungen und
Eigenschaften des Menschen, welche in der Erbmasse des ersten Genoms nicht
weitergegeben werden können. Nun entsteht mit der Erinnerung, mit dem
geschichtlich-kulturellen Zeitbewusstsein die neue Sinn-Dimension. Deren
Aufbrechen ist vom ersten Genom ermöglicht, darauf weiterhin abgestimmt, als
Freiraum in seinem Rahmen eingezeichnet.
Die Geschichtsnatur des Menschen ist Resultat und Phase der
Naturgeschichte des Menschen. Geist und Bewusstsein, welche unter dem Begriff
der Geschichtsnatur mitgemeint sind, sind also schon im ersten Genom, welches
die Entwicklung von Pflanzen- und Tierwelt ausschliesslich beherrscht, angelegt.
Der Freiraum zur Ausbildung der menschlichen Geschichtsnatur und damit die
Eröffnung der Sinn-Geist-Dimension in der Gesamtevolution muss dann notwendiger
Weise schon im molekularen Bereich der organischen Materie enthalten sein. Jede
nicht-reduktionistische Darstellung der Evolution der geistigen Natur des
Menschen wird die Möglichkeit des Geistes schon in die Anfänge und materiellen
Gründe der Lebensentwicklung verlegen müssen.
Rütters besondere Leistung besteht nun darin, die Emergenz,
die Inständigkeit des Selbst in seinem Begriff der Individuation zu
berücksichtigen. In der Konsequenz seiner transzendentalen Auffassung der
Leiblichkeit versucht er den Gegensatz zwischen naturwissenschaftlicher und
geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung zu überwinden, die
einzelwissenschaftlichen Resultate in eine transzendentalkritische Sprache zu
transponieren. Die Devise seines intendierten Weges bildet das Begriffsgeflecht
in der Wendung, von der unterscheidbaren Ununterschiedenheit von Naturgeschichte
und Geschichtenatur des Menschen. Seine Transzendentalien heissen ideeller
Körper, Körper-
und Geistseele und Bewusstheit-Geist, die zusammen die Dreieinheit
des Leibes formieren. Diese Einheit selbst wird als regulative Idee aufgefasst„
also nicht als fertige Struktur und geschlossene Totalität, sondern als
Perspektive, als Sinnrichtung möglicher Selbsterfahrung der Geschichtsnatur des
Menschen.
Die Transzendentalien umfassen die Intentionalität, die
leibbedingte, leibbezogene Semantik des menschlichen Weltbezuges. Die Welt
erscheint dabei als Umwelt. Da sich aber in der Leiblichkeit des Menschen die
gesamte Entwicklungstiefe der Evolution "erinnert", handelt es sich nicht
um Erscheinungshaftigkeit, erzeugt durch ein apriorisches Bewusstsein, sondern
um Bewusstwerdung der Lebenswelt im Menschen.
Die Tiefe menschlicher Naturgeschichte bezeugt sich in der
aus dem Unbewussten stammenden basalen Bedeutungsschicht des Mythos, deren
Zentren Vereinzelung und Gesehlechtlichkeit des Leibes betreffen. Als Einheit
irreduzibler Transzendentalien kann der Leib nie in positiven Begriffes erfasst
werden, er wird in der Lebenspraxis als Telos möglicher und wirklicher Erfahrung
erschaut. Die Frage nach dem Menschen sucht demnach ihre Antwort immer im
wechselnd fliessenden Geschehen der Geschichte. Auch die "naturwissenschaftlich"
gestellte Frage nach den Wesensmerkmalen der humanen Spezies ist darauf
verwiesen. Der Leib als regulative Idee kann niemals blosser Gegenstand, niemals
Objekt der Forschung werden. Hingegen ist er im Forschen des Forschers selbst
tätig.
Plessner übertrug die deskriptive Methode der Phänomenologie
auf seine anthropologischen Sachgebiete. Sie ist metaphysisch neutral, schirmt
dabei aber auch Fragestellungen ab, welche die Stellung des Menschen zur Welt
betreffen. Für ihn besteht zwischen der Deskription der Positionalität der
Pflanze, der Zentriertheit des Tiers und der Exzentrizität des Menschen kein
methodischer Unterschied. Die "natürliche Künstlichkeit" des Menschen erfordert
scheinbar keine andere Begrifflichkeit als z. B. das tierische Verhalten. Dabei
verwendet Plessner jedoch zur Abhebung des Menschen vom Tier, zur Darstellung
seiner Exzentrizität die Selbstbezüglichkeit des Ich-Bewusstseins. Indem er
dieses wie ein Verhalten beschreibt, objektiviert er es.
Rütter: hingegen respektiert kritisch die Uneinholbarkeit
des Ich als Quellpunkt des Unmittelbaren. Um dessen Leibbezogenheit
auszudrücken, bedient er sich auch der Schopenhauerschen Wendung vom Leib als
dem "unmittelbaren Objekt". Rütter behält die Flüssigkeit des
Subjektiven, indem er dessen unendliche Bewegung auf die Evolution im Ganzen
bezieht. Wo er den Leib als Ganzes, als Gestalt zur Anschauung bringt, wo er
etwa von dessen Satellitenstruktur oder seiner Polyzentrizität spricht, bleibt
er sich des Modellcharakters der Veranschaulichung bewusst.
Max Scheler entgeht der unzulässigen Objektivierung durch
ontologische Unterscheidung des raum-zeitlichen Seins der Natur-Prozesse und des
idealen Seins des gott-menschlichen Aktzentrums, von dem aus sich geistiges
Wesen in die Natur einsenkt. Mit dieser Zuhilfenahme regionaler Ontologien
bleibt Scheler aber doch dem Dualismus neuzeitlicher Metaphysik verhaftet.
Die Überwindung dieses Dualismus einerseits und die
Vermeidung fälschlicher Vergegenständlichung der Existentialität des
Menschenwesens anderseits sieht Rütter bei Whitehead geleistet. Whitehead
ersetzt die Weltbeziehung nach dem Schema von Subjekt-Objekt durch das
einheitliche Wahrnehmungsfeld, als welches die Natur sich gestaltet und im
Menschen bewusst wird. Leiblichkeit ist gleichbedeutend mit diesem Feld. Den
Ausdruck Whiteheads "conceptual feeling" setzt Rütter gleich mit seinem
zentralen Terminus "abstraktive Empfindung". Darin ist die Trennung Kants
von Anschauung und Begriff aufgehoben. Möglich wird diese Aufhebung durch die
genetische Betrachtungsweise.
Die natürliche Evolution selbst verzweigt sich in den
wahrnehmenden Leib des Menschen und die von ihm wahrgenommene Welt. Sie
polarisiert sich in Innen und Aussen des Wahrnehmungsfeldes. Das Innen der
Bedeutung der Wahrnehmung bildet sich im raumzeitlichen Vorgang der physischen
Einwirkung des aussen wahrgenommenen Reizes. Der Leib und ideelle Körper, der
wahrnimmt, ist von derselben Beschaffenheit wie die Dinge seines Umfeldes, in
dem er steht, aus welchem er emergiert. Welt und Leib bilden zusammen die
Kraftlinien des polaren einheitlichen Feldes der Wahrnehmung. Wie die tierischen
Verhaltensweisen mit der Umwelt eine Funktionseinheit bilden, so der in
Bedeutungen, Bedeutungsvollzügen begriffene menschliche Leib und die Welt.
Bergson hatte vor Whitehead mit seiner Auffassung der
"intuition" diesen erkenntnistheoretischen Weg gewiesen. Er parallelisiert die
ganzheitliche Intuition, in Abhebung von der analytischen "intelligence", mit
der Funktionseinheit des animalischen Instinkts und der Umwelt. Rütter betont
die Trieb-Natur der Leiblichkeit. Die Bedeutungswelt des Menschen entspricht den
Bedürfnissen des ideellen Körpers. Zusätzlich zu den Grundtrieben, die dem
Menschen mit dem Tier gemeinsam sind, kommt der nur dem Menschen vorbehaltene
Geisttrieb hinzu. Das ihm zugeordnete Organ ist das Gehirn. Wie das Tier seine
Umwelt, so hat der Mensch das Welt-Bild, das seiner Leiblichkeit entspricht,
sein Wissen von der Natur ist die Auslegung seiner leiblichen Welterfahrung. Der
ideelle Körper ist das transzendentale Organ der Organe.
Wenn Rütter vom Innen spricht, meint er damit nicht die
bewusstseinsmässige Innerlichkeit, sondern das Innere des Organismus, was "hinter
der Haut" liegt, die Funktionseinheit von Leib und Welt in der Dominanz des
leiblichen Pols. Das Innen kann aber nur begriffen werden im Hinblick auf das
Aussen, wie umgekehrt die Welt immer die Welt der leiblichen Erfahrung bleibt.
Dem dritten Teil der mittleren Trilogie, „Gedanken des Leibes über den
Leib", setzt er als Motto den Goetheschen Spruch voran:
Nichts ist drinnen, nichts ist draussen:
Denn was innen, das ist aussen.
Der Seitenblick auf Goethes Naturphilosophie begleitet
Rütters gesamtes Schaffen. Im genannten Werk findet sich die Stelle: "Wie wir
schon oft sagten - aber diese Wiederholung ist nun wirklich die Mutter
unserer philosophischen Studien - der Leib ist ein Innen und ein Aussen.“
(S. 197).
Unverkennbar ist die erkenntnistheoretische Nähe zum Begriff
der Intentionalität, wie er von Brentano aus Aristoteles neu gewonnen und von
der Phänomenologie übernommen wurde. Doch hat er bei Rütter, wie bei Bergson und
Whitehead im Rahmen der Evolutionstheorie seinen systematischen Ort gewechselt,
es handelt sich nicht mehr um die Intentionalität des Bewusstseins, jedenfalls
nicht nur, sondern ebensosehr um die Intentionalität des Unbewussten, um
Verzweigung und Polarisierung im Naturprozess selbst. Der Begriff "Passung" von
Erkenntnisapparat und Umwelt, wie ihn die evolutionäre Erkenntnistheorie
gebraucht, ist in der Innen-Aussen-Beziehung berücksichtigt, ohne dass die mit
der Rede von "Passung" verbundene Vergegenständlichung des ideellen Körpers mit
unterläuft.
Das Zusammenspiel der Funktionen, welches die Eigenart des
menschlichen ideellen Körpers ausmacht, bezeichnen die drei aus einem einzigen
Wortstamm gebildeten Namen, die Rütter einführt: organisch, organologisch,
organismisch. Der Begriff des Organismischen hängt zusammen mit der "natürlichen
Künstlichkeit", mit der Produktion kultureller "Stützen", mittels
welcher sich die Exzentrizität menschlichen Weltverhaltens ein kompensatorisches
Gleichgewicht schafft. Im Leib sind die organischen Funktionen von Funktionen
des Beutungsvollzugs überlagert, von organologischen Funktionen, die sich
ihrerseits wieder auf ein sinnlichphysisches Substrat beziehen; das massgebende
Phänomen ist die Sprache. Deren lautliche Seite stellt die Beziehung zwischen
dem organologischen und dem organischen Vermögen her.
Die sinnliche Vermittlung ist dem Zeichen nicht äusserlich,
sondern spiegelt die leibliche Funktionseinheit des ideellen Körpers. Das
lautliche Zeichen wirkt als sinnlicher Reiz, verdoppelt ursprünglich den von der
Umwelt ausgehenden physischen Heiz, wobei das Rezeptorische des physischen
Reizes durch den effektorischen Vorgang des Verlautenlassens semantisch geprägt
wird. Organismisch ist also ein auf organische Wahrnehmung angelegte
Identifikation eines physischen Reizes, der gerade in dieser Identifikation
seine semantische, organologische Qualität erhält. Durch die behauptete
Notwendigkeit der Verbindung von Bedeutungsvollzügen mit sinnlicher
Zeichenwahrnehmung wird die Dimension des Semantischen, des Geistigen,
Abstraktiven selbst ins Feld der leiblichen Vollzüge verlegt und aus der Sphäre
der reinen bewusstseinsmässigen Intentionalität herausgenommen.
Rütter spricht im Hinblick auf die leibliche
Wahrnehmungsgebundenheit des Geistes und seiner kulturellen Zeichensysteme von "Physiologie
der Kultur". Mit Physiologie meint er die Funktionseinheit des ideellen
Körpers. Das Vermögen der Zeichengebung ist für die Spezifität des menschlichen
Wesens ausschlaggebend. Die Zeichengebung unterbricht die animalische Form von
Reiz und Reaktion in instinktiver Verschlossenheit, der Geisttrieb, der auf die
Zeichenverdoppelung ausgeht, übernimmt im menschlichen Verhalten durch
Beeinflussung der andern Triebe die praktische Führung.
Rütter spricht von einer Vermittlung der
rezeptorisch-effektorischen Aktivität des Leibes, von der transzendentalen
Empfindung. Diese scheint er als das Vermögen der Selbst-Ortung des
Menschenleibes, ähnlich wie Plessner die Exzentrizität, zu deuten, als das
Vermögen "hinter sich und hinter die Welt zu kommen". Im Unterschied zu
Plessner modelliert Rütter aber diese Exzentrizität, entsprechend seinen
Transzendentalien der Leiblichkeit – Körper, Seele, Geist -, polyzentrisch; er
spricht von der Satellitenstruktur des ideellen Körpers. Den materiellen
Körper umkreisen die Zentren von Körperseele und Seelengeist, ein System von
durchaus kosmologischer Bedeutung konstellierend (Biologie der Logik, S.
173).
"Das biologische Element des Transzendentalen vereinigt
sich durch Geist und Trieb und Trieb und Geist mit dem Element der tradierten
Kultur. Das ist es, was der Satz ausspricht. Damit geschieht eine Vereinigung
ohne Blitz und Donnerschlag, eine Vereinigung aller Tage. Wenn man alle
Aktivitäten mit einbaut, die auch gemeint sind, wenn ich vom ‚Aussprechen des
Satzes’ rede, so ist damit die weltgeschichtliche Synthese, die materielle,
biologische wie auch geistesgeschichtliche Vereinigung von Natur und Kultur
gemeint" (Physiologie der Kultur, S. 171).
"Die Sprache als leibliche Geste" - daraus erwächst
für Rütter selbst eine neuartige methodische Disziplin der sprachlichen,
begrifflichen, philosophischen Darstellung. "Gedanken des Leibes über den
Leib" ist einer seiner signifikantesten Werktitel. Der leibliche Aspekt
seines eigenen Denkens und Sprechens kann beschrieben werden als ein Schreiten
und Steigen. Die Gedankenbewegung vollzieht sich in diskreten Schritten und
Ansätzen, welche zunächst zu den Formen des Aphorismus und Kurzessays gerinnen.
Im sorgfältigen Aufsetzen des Fusses bei jedem Schritt
bezeugt sich die steile Hanglage des zu beschreitenden Weges und das angestrebte
schwierige Ziel, der Gipfel. Der drohende methodische Abgrund besteht in der
Gefahr der falschen Objektivierung oder Subjektivierung des Gegenstandes der
philosophischen Anthropologie. Der Gang der Untersuchung hat eine genaue Mitte
zu halten, ist ein Schweben über dem Abgrund. Der Mensch ist das Wesen der Höhe,
aus eigenen Kräften trägt er den eigenen Leib empor.
Die Bergsteiger-Metapher bietet sich auch an in Ansehung der
Gesamtgestalt von Rütters Schaffen. Jeweils schon im ersten Band einer Trilogie
ist das Thema vollständig vergegenwärtigt. In den folgenden Teilen wird es
wiederholt auf der höheren Ebene einer sich differenzierenden Begrifflichkeit
mit weiteren Ausblicken, mit gesteigerter Fernsicht. Die drei Trilogien selbst
sind Wiederholungen desselben Themas, spiralförmige Kehren zu immer grösserer
Gipfelnähe. Rütter nennt diese Disziplin der Wiederholung "physische
Gymnastik des Geistes".
Dazu die Stelle aus "Gedanken des Leibes über den Leib":
„Wer einen Schritt tut und dann wieder einen, dann einen
Schritt zurück, dann wieder einen nach vorwärts, in einer bestimmten Kadenz,
dann Schritte nach vorwärts und rückwärts, die aus dieser Kadenz fallen, und der
diese Schritte weder vordenkt noch nachdenkt, sie also in der Einheit des
psychophysischen und des leiblichen Geschehens ganz einfach denkt, als
ununterschiedener Gedanke des ideellen Körpers und des Geistes, der hat etwas
begriffen von der physischen Gymnastik des Geistes" (S.216).
An anderer Stelle, in der zweiten Whitehead-Vorlesung,
gelingt es Rütter unbeabsichtigt seinen denkerischen Gestus in ein gültiges
Gleichnis zu fassen: "Ein geübter Berggänger lässt sich an kleinen Anzeichen
erkennen, auf die derjenige achtet und achten kann, der selbst ein bisschen
Erfahrung hat. In einem tief verschneiten Hochtal des Kantons Schwyz ging ein
Tourist einen Hang hinan. Ich folgte ihm. Der Schnee liess nicht erkennen, wohin
man seinen: Fuss setzte. Dort wo der Hang besonders steil war, sicherte mein
Vorgänger seine Fussstapfen ab auf eine typisch berggewohnte Weise. Er setzte
seinen Schuh in den Schnee einmal, zweimal und vielleicht sogar ein drittes Mal
an derselben Stelle, um sich einen verlässlichen Halt zu schaffen. Ein höchst
gewöhnliches Vorgehen, wird man sagen. Aber es hat seine ‚Spektralfarben’, seine
philosophischen." (Arbeitsblätter der Akademie für ethische Forschung
Winterthur, Nr. 11 Juni 1981, S. 18).
Das Ersteigen des Berges, das Sich Hochtragen des Leibes,
Schritt um Schritt, bei immer weiterer Aussicht, obwohl alles sich immer nur zu
wiederholen scheint, ist für Rütter auch ein Bild des Menschen in der Evolution,
in der Naturgeschichte und ein Ideal der menschlichen Geschichtsnatur, Zielbild.
Zuoberst ereignet sich die Verklärung, das Tabor-Ereignis der vollkommenen
Individuation und erreichten Dreieinheit des ideellen Körpers, des Leibes, in
welchem sich die Sinndimension, das Aufwärts, die Aufgipfelung der Evolution
erfüllt. Im Bergsteiger-Willen des Menschen zur Höhe gipfelt sie sich selbst
auf. Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist nicht mehr gesehen in der
Horizontale der Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern in der Aufschichtung der
evolutionären Pyramide.
Neben dem Tabor-Bild des evolutionären "werdenden Gottes"
entwirft Rütter gelegentlich noch eine andere sinnbildliche Bergsituation: der
Aetna, der Sturz des Empedokles. So in dem Abschnitt "Mystik, Eros und Leib"
in "Gedanken des Leibes über den Leib": "Es ist die volle Gewalt
dieses einmaligen Zusammentreffens, welches die Tiefen der Natur aufrührt und
die Höhen des Geistes erschüttert, die dem Sturz des Empedokles in den Krater
des Aetna gleicht: es ist die schöpferische Vermählung des Geistes mit der
Natur, es ist die Erhebung und Steigerung der organischen Existenz des Leibes zu
seiner organismischen" (S. 114/ Werke, Band 2, S. 823).
Wir dürfen es wohl als einen Glücksfall bezeichnen, dass der
Schriftsteller-Freund Rütters, Ludwig Hohl, in genauer Entsprechung zu Rütters
philosophisch-evolutionärer Bergsteiger-Metapher in der Erzählung "Bergfahrt"
(Frankfurt 1975) eine Parabel gedichtet hat, die sich mit den Rütterschen
Begriffen und Mitteln philosophischer Anthropologie exakt interpretieren lässt.
Es genügt, die Abschnitte in Rütters "Gedanken des Leibes" mit den
Leitworten "Leib der Pflanze", "Leib des Tiers", "Leib des
Menschen" und die Phasen des Abstiegs vom Grat in Hohls Erzählung zu
parallelisieren, wo der in extreme Not geratene Kletterer Ull in
phylogenetisch-evolutionärer Anamnese und Sukzession die Klettermethoden der
Pflanze (Efeu), des Tiers (Gemse) und schliesslich des Menschen (mit Hilfe des
Werkzeugs, des Bergseils) reaktiviert.
Mit dem rettenden Gedanken an das Werkzeug, das Seil, ist
der jähe Ursprung der Sprache verbunden, insofern der Einfall zu dessen
Benützung von der - in Holland - abwesenden Geliebten, von deren plötzlich
vernommener Stimme, ausgelöst wird. In Holland, im Exil, hatte L. Hohl sein
Notizen-Werk geschrieben. Rütter erwähnt Ludwig Hohl auch in seinen Texten. Das
Werft der beiden befreundeten Autoren umkreiste in lebenslanger Anstrengung die
Themen der philosophischen Anthropologie. Im Bergsteiger-Gestus beruht ihre
physiognomische Verwandtschaft. Beide bewegten sich in grossen Höhen der
Abstraktion und blieben in ihrem poetischen und philosophischen Denken doch
bodenständig, empirisch, wie ja auch der Fuss des Bergsteigers auf des Gipfel
nach immer am Boden haftet.
Aus Rütters leiblichem Gestus des Denkens ("Gedanken des
Leibes über den Leib"!) lässt sich nicht nur die Poesiebezogenheit seines
Werkes, die Ungetrenntheit des Mythischen und Logischen, ableiten, sondern auch
dessen moralisch-praktische Seite. Vor allem in seinen ersten Büchern beruft er
sich auf den Entschluss, Philosophie nicht im akademischen Rahmen zu betreiben,
sondern als "Arbeiterphilosoph", indem er selbst beruflich als
Unternehmer in der Textilindustrie tätig wurde. Praktisch erschloss er sich das
Gebiet der praktischen Vernunft und erwarb er sich die Legitimation, in
Gesellschafts- und Wirtschaftsfragen, in der Diskussion um Sozialismus und
Kapitalismus mitzureden.
Die Motivation zu dem entscheidenden Schritt war
philosophischer Statur. Rütter spricht in Andeutungen mehrfach von einem
eigentlichen Konversionserlebnis, von einer "Nacht der Gesichte" (Dialektik
der Nacktheit, S, 221) . Er erinnert an die von Diogenes Laertius erzählte
Geschichte des "philosophischen Lastträgers".
Sein Lebensgefühl, in der Welt zu stehen, bezeichnet er im
Zusammenhang mit der Philosophie Whiteheads, mit welcher er sich am liebsten in
Beziehung gebracht sah, als ozeanisch, als atlantisch, im
Gegensatz zum "kontinentalen" Charakter der Universitätsphilosophie. Auch sah er
sich als Lebensphilosoph,, aber nicht im Zuschnitt der Existentialisten, sondern
im konkret leiblichen Gestus der antiken Philosophenschulen der Kyniker,
Skeptiker, Stoiker.
Die Motivation des Schrittes ins Praktische, die Art der
Hinwendung zu den Problemen der praktischen Vernunft konnte Rütters
Auseinandersetzung mit dem Marxismus einleiten. Dies bezeugen etwa die folgenden
Äusserungen: "Mein Standort ist ein heller Fabriksaal" (Von der Natur
des Geistes, S. 16), oder "... mitten im Getümmel des Fussvolkes der
industriellen Armee, in der ich so lange ‚gedient’ habe und in der ich mir die
durch die Praxis dargestellte und erklärte Theorie, die durch die Theorie
dargestellte und erklärte Praxis zu erwerben suchte" (Arbeit und
Schöpfung, S. 12).
Rütters Gesellschaftslehre ist bestimmt vom Versuch,
jenseits von Sozialismus und Kapitalismus eine neue Zukunftsperspektive zu
eröffnen. Dabei legt er eine Interpretation zugrunde, in welcher die beiden
Gesellschaftstheorien als Abkömmlinge der Aufklärung von denselben
kryptoreligiösen Motiven bestimmt erscheinen und deren komplementäre Darstellung
bedeuten. Ihre Ideologie ist in gleicher Weise der neuzeitlichen "Wissenschaftskirche"
verpflichtet.
Rütter nimmt aber kryptoreligiöse Motive im Sinn seiner
religionsphilosophischen These vom "Kontinuum der Offenbarung", von der
permanenten schöpferischen Verwandlung der religiösen Formen, durchaus ernst.
Die Anschlussstelle für seine eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen findet er
vorwiegend beim Marxismus. Weite Teile seines Werkes sind deshalb der
Auseinandersetzung mit ihm gewidmet, so vor allem grosse Partien in den Bänden "Arbeit
und Schöpfung" und "Gedanken des Leibes über den Leib".
"Der Marxismus ist in seiner heutigen Form ein ungeheures
Fragment, ein mächtiger Torso, ja, in mancher Hinsicht ein noch ungeformter
Block, der den philosophischen Bildhauer ruft" (Gedanken des Leibes über
den Leib, S. 54).
Kernpunkt der Auseinandersetzung Rütters mit Marx und den
Neomarxisten ist die Thematik des homo novus. Diese soll durch eine den
aufklärerischen Horizont Feuerbachscher und Marxscher Auffassung des Menschen
durch die Einfügung der Anthropologie der Leiblichkeit und der Individuation
ergänzt und in eine neue Richtung gebracht werden.
"Die Bedeutung der marxistischen Anthropologie des
kommenden Menschen. Der Wahrheit am nächsten kommt wohl im Marxismus die
Reflexion über die Bestimmung des Menschen. Der Marxismus ist der gross
angelegte theoretische und praktische Versuch, den Menschen sich selbst
zurückzugeben" (Gedanke des Leibes über den: Leib, S. 53).
An anderer Stelle heisst es: "Der marxistische Mangel an
Anthropologie ist offenbar" (Gedanken des Leibes über den Leib, S.
175).
Der Einbau philosophischer Anthropologie als solcher in den
Marxismus führt das entscheidende Argument, die notwendige Korrektur mit sich.
Die natürliche Künstlichkeit des Menschen impliziert eine wesentlich andere
Bewertung der Arbeit. Sie stellt den "elementaren Bezug des Menschen zur Welt"
dar. (Gedanken des Leibes über den Leib, S.185). Sie ist nicht Einwand
gegen, sondern "Form der Menschenwürde" selbst (S. 68).
Die kryptoreligiöse Paradiesesvorstellung des von der Arbeit
befreiten Menschen verkennt die naturgeschichtliche Wurzel der menschlichen
Geschichtsnatur. Als ideeller Körper bleibt der Mensch immer auch Natur. Das
zweite Genom der kulturellen Tradition bleibt immer auf das erste biologische
Genom bezogen, von ihm abhängig. Es begründet auch die notwendige
Verschiedenheit der Individuen. Keine klassenlose Gesellschaft, welche die
Individuen zurücknehmen möchte "in den Mutterleib" (l.c. 64) des
Kollektivs, kann dem einzelnen die Mühe der biologischen und kulturellen
Individuation abnehmen. Diese geschieht im Medium von Arbeit und Schöpfung.
Die Irrtümer des Marxismus in anthropologischer Hinsicht
entstammen einer bloss materialistischen Auffassung des Körpers, der nicht als
ideeller Körper in der leiblichen Dreieinheit der Transzendentalien von Körper,
Seele, Geist gesehen wird. Dahinter steht der Physikalismus der neuzeitlichen
Wissenschaft. Voraussetzung der anthropologischen Korrektur der
Gesellschaftslehre ist es, dass sich vollziehe "die Auferstehung des Leibes
aus den Grabkammern der Naturwissenschaft" (Biologie der Logik, S.
285). Indem der Marxismus einerseits den Menschen bestimmt sein lässt von
Gesetzen der äusseren Welt und andererseits in der Forderung der revolutionären
Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse an sein Innen appelliert,
bezeugt er das neuzeitliche "Auseinanderbrechen der Leiblichkeit" (Gedanken
des Leibes über den Leib, S. 39).
Die entscheidende Stellung, welche Rütter dem Begriff der
Individuation gibt, könnte an Nietzsche erinnern, an seine Art der "Physiologie"
der Kultur, in welcher er die Entstehungsbedingungen des grossen Individuums
untersucht. Doch hat Rütter nicht die sinngebende Funktion des grossen
Individuums für die Zukunft der Menschheit im Blick, seine Intention ist nicht
auf das Überragende kultureller Leistungen gerichtet, sondern auf eine generelle
Naturgemässheit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Von dieser Idee aus kann er
auch ein gewichtiges Wort zu einer ökologisch ausgerichteten Zukunft sagen. "Was
der Mensch seiner Umwelt antut, tut er vielleicht zuerst seinem eigenen Leibe
an.... ‚Der Leib der Welt' tritt an die Stelle des an sich verachteten, nur als
Mittel gedachten menschlichen Leibes. Die gestörte Symbiose des Menschen mit
seinem Leib wurde zur gestörten Symbiose des Menschen mit seiner Welt. Die
Aussenwelt als Umwelt wurde zum Mittel des Menschen, zum Objekt seiner
Leistungsaskese. So begann die Ausbeutung der Natur, zu der das Mittelalter
weder die materielle Macht noch die metaphysische Richtung besass. Was in der
Aussenwelt möglich ist, muss zunächst in der Innenwelt vorbereitet sein. So wird
die Innenwelt des Menschen zum Schicksal seiner Aussenwelt, zum Schicksal der
Umwelt" (Gedanken des Leibes über den Leib, S. 167/8).
Die Absicht Rütters, den Marxismus durch die philosophische
Anthropologie zu ergänzen und zu korrigieren, lässt sich mit den Versuchen
Marcuses vergleichen, durch Berücksichtigung anthropologischer Gesichtspunkte
der Psychoanalyse zu einer entsprechenden Erweiterung zu gelangen. Es gilt die
materialistisch-reduktionistische Auffassung des homo oeconomicus zu überwinden,
der ausschliesslichen Bestimmung des Individuums durch Gesetze des Aussen,
welche letztlich einem umgekehrten Idealismus neuzeitlicher Subjektsphilosophie
entspringt, durch die Aufwertung der biologischen Basis des leiblichen Innen zw.
begegnen, die Autonomie wirtschaftlich-materieller Mechanismen auf die
naturgeschichtliche Basis des ideellen Körpers abzustützen.
Aber Rütter wirft der Psychoanalyse eine andere Form des
Reduktionismus vor, den psychologischen. Die Kritik richtet sich gegen Freuds
psychischen Libido-Begriff. Auch in ihm liegt ein kryptoreligiöses Motiv,
ähnlich der Vorstellung des von wirtschaftlichen Zwängen, aus der Entfremdung
der Arbeit befreiten Menschen der klassenlosen Gesellschaft. Da das Psychische
in der anthropologischen Ganzheit des dreieinigen Leibes nur eine Schicht bildet
und in der unlösbaren Verknüpfung mit dem ideellen Körper zu sehen ist, dessen
natürliche Anlage die technisch-arbeitsmässige Auseinandersetzung mit der Welt
gebietet und demnach immer eine Quelle der Unlust darstellt, kann die Libido
nicht das Ziel der gesamten Lebensführung sein, Lust und Unlust treten nur
zusammen auf, im Kampf mit Widerständen. Ziel der Lebensführung ist nicht die
seelische Libido, sondern die volle Ausbildung der Leiblichkeit, die
Individuation.
Hinter Freuds und Marx' kryptoreligiösen Erlösungslehren,
Erlösungen nämlich von der kulturbezogenen menschlichen Natur, visiert Rütter
den von Rousseau inaugurierten Kulturpessimismus an. Neben Freud und Marx ist
Rousseau für ihn ein permanenter Gesprächspartner. Aus der Konzeption der
Dreiheit des Leibes heraus kann sich Rütter gegen die Sublimierungstheorie
Freuds und damit gegen die Begründung "des Unbehagens in der Kultur" wenden. Dem
organismischen Bereich entspricht im Organischen das Gehirn. Diesem zugeordnet
ist der mit den andern, ebenfalls organgebundenen Grundtrieben gleich
ursprüngliche, im ersten Genom angelegte und mit eigener spezifischer
Triebenergie ausgestattete Geisttrieb. Seine Vernachlässigung führt ebenso zum
Zusammenbruch des ganzen leiblichen Systems wie etwa die Vernachlässigung des
Nahrungs- oder Geschlechtstriebs. Er kann auch in einseitiger Dominanz ausarten,
z. B. in einer ins Gesamtleben nicht mehr integrierten technologischen
Intellektualität. Sein Spezifikum ist die intellektuelle Neugier.
Schon in seiner Beurteilung vorherrschender Ideologien der
Gegenwart, vor allem des Marxismus, wendet Rütter den Gesichtspunkt der
Integrität und der Partialität an. In "Kontinuum der Offenbarung" bezieht
er sich auf Hermann Brochs Analyse der modernen Tendenz zur Partialität, d.h.
der Verabsolutierung in sich geschlossener durchrationalisierter Sachgebiete wie
etwa die Ökonomie. Im marxistischen Materialismus, als umgekehrter Idealismus
beschrieben, als einseitige Akzentuierung des "Aussen" der Innen-Aussen
Beziehung des Menschen in seiner Welt, wird das übergeordnete Gesamtverhältnis,
das sich in einer Vielheit von einzelnen Relationen entfaltet, nach den
transzendentalen Grundintentionen von Körper, Seele, Geist auf eine Perspektive,
auf ein Moment der Beziehungsstruktur reduziert und von ihm aus der Versuch
unternommen, das Weltverhältnis des Menschen im Ganzen zu konstruieren.
Ideologie-Kritik ist also verstanden als Korrektur solcher Einseitigkeit.
Korrektur, die auch Therapie sein möchte, denn es handelt sich ja hier nicht um
blosse Theorie, sondern die Phänomene, die Rütter anvisiert, betreffen die reale
Beschaffenheit des ideellen Kulturkörpers.
Indem Rütter im Sinne des "Kontinuums der Offenbarung"
und auch im Sinne seiner Auffassung der Leiblichkeit, seiner Physiologie der
Kultur, dem mythischen Entwurf aus dem Unbewussten die sinnbildgebende Funktion
zuschreibt, aus der sich die konkreten kulturellen Tendenzen einer Epoche
erklären, muss er auf eine bloss theoretisch-rationale Zeitkritik verzichten.
Kritik besteht darin, die kryptoreligiösen Fixierungen des epochalen
Bewusstseins in echt religiöse Bindung zu verändern.
Im Versuch, die Frage zu beantworten, wie es zur Ausbildung
solcher kryptoreligiöser Formen der Religiosität kommen kann, entwickelt sich
Rütters anthropologische Geschichtsphilosophie. In Erinnerung an die
"Phänomenologie des Geistes" spricht er von der "Phänomenologie der
Leiblichkeit". Die Strukturmomente des ideellen Körpers treten darin auf als
Dominanten historischer Epochenbildung. Sie werden zu Hauptcharakteristika
bestimmter Kulturen. Sie bilden die grossen Paradigmen der Weltreligionen. Sie
lassen sich auch systematisch darstellen als das konstante Ensemble
gesellschaftlich-kultureller Funktionen. In der zeitlichen Perspektive
evolutionärer Langfristigkeit der Entwicklung, im Rahmen also der
naturgeschichtlichen Zeit, konkresziert für Rütter z. B. das
geschichtsnatürliche Schicksal des Abendlandes zu einer solchen Phänomenologie
des sich nach seinen Momenten entfaltenden Leibes, zu einem Beispiel möglicher
geschichtsnatürlicher Ausprägung, zu einer einzelnen Ausgestaltung natürlicher
Künstlichkeit. Dabei wird das Motiv der Besonderheit der Entwicklung in die
letztlich physiologisch fundierte, nach anthropologischer Naturgesetzlichkeit
geschehende Auseinandersetzung des Leibes mit der Umwelt verlegt.
Einen grossen Anteil an der kulturphilosophischen Thematik
nimmt bei Rütter in allen Schriften die Beschreibung von Antike, Mittelalter und
Neuzeit, einschliesslich der Gegenwart ein, in der Zuordnung zu den leiblichen
Strukturmomenten, ideeller Körper, der in der Antike dominiert, Geistseele, als
Moment der jüdisch-christlichen Welteinstellung des Mittelalters, und
Seelengeist, welcher die Rationalität der Neuzeit charakterisiert. Der Wert
dieser Beschreibungen dürfte dabei vor allem im Methodischen liegen. Fruchtbar
scheint mir der Umstand, dass die Erklärungsebene für den kulturgeschichtlichen
Paradigmawechsel in der Verflochtenheit von Naturgeschichte und Geschichtsnatur
angesetzt wird, dass damit Vorgänge langzeitlich-evolutionärer und kurzzeitlich
kultureller Art interferieren.
Der Hinweis auf C. G. Jungs Archetypenlehre und seine
Interpretation geschichtlicher Veränderung aus den Verschiebungen der
archetypischen Konstellation, kann vielleicht auf Rütters Methode
kulturphysiologischer Geschichtsdeutung ein Licht werfen. In der Durchführung
seiner Epochenbeschreibung auf der Grundlage anthropologischer Strukturen der
Leiblichkeit, obwohl meist in de Form geistvoller Aperçus vorgetragen, scheint
mir Rütter einerseits seine grössten Schwächen aufzuweisen, anderseits aber
scheint mir im methodischen Gesichtspunkt, angezeigt im immer wiederholtem fast
zu einer Obsession werdenden Begriffsgeflecht von Naturgeschichte und
Geschichtsnatur, die eigentliche Tiefe seines Denkens zu liegen. Gerade hier
zeigt er konkret den Weg auf zur Überwindung des Grabens zwischen Natur- und
Geisteswissenschaft. Unbestreitbar scheint mir das Gewicht seines beschwörenden
Hinweises auf die Naturgeschichte in der Kulturgeschichte und die
Kulturgeschichte in der Naturgeschichte.
Die Erweiterung der Dimension des Geschichtlichen durch den
Einbezug des naturgeschichtlich gewordenen Körpers als Träger des kulturellen
Lebens garantiert dem Geschichtsentwurf, der geschichtsphilosophischen oder eben
"geschichts-physiologischen" Betrachtung eine grundsätzliche Offenheit.
Im Zusammenhang mit der von Th. S. Kuhn aufgebrachten Problematik des
wissenschaftlichen Paradigmawechsels sagt Rütter in "Physiologie der Kultur":
"Der Anteil des menschlichen Organismus an dem, was fälschlich
Geistesgeschichte genannt wird (es ist vielmehr ebensowohl Körpergeschichte),
ist bisher in der Theorie kaum zu Worte gekommen" (S. 183).
Gründe für geschichtlichen Wandel, welche der
naturgeschichtlichen Dimension zugehören, sind rational nicht direkt zugänglich,
in keine geschichtsphilosophische rationale Konstruktion einzufügen. Das
vermeintliche, angemasste Wissen über den Gang der Geschichte und damit auch,
über das Wesen der menschlichen Geschichtsnatur ist gerade ein Kennzeichen
kryptoreligiöser Einstellungen. Die elementare Religion fragt immer nur.
"Wohin gehst du Mensch? So fragt die elementare Religion, so wird sie immer
fragen" (Kontinuum der Offenbarung, S. 41). Der Mensch "geht immer
am weitesten, wenn er nicht weiss, wie weit und wohin er geht" (l. c. S.
113).
Angesichts einer Zukunft, in die keine bloss rationale
Berechnung einzudringen vermag, sondern deren Richtung und Richtungswechsel aus
dem Unbewussten des leiblich-mythischen Entwurfs erfolgt, ist das
Zukunftsverhältnis des Menschen geprägt von Ungewissheit und dem Gefühl der
Abhängigkeit. Rütter bezieht sich in seiner Beschreibung der elementaren
Religion als anthropologischer Grundfunktion auf das "Gefühl schlechthinniger
Abhängigkeit" von Schleiermacher. Da Rütter von einer leiblichen Bezogenheit
auch des wissenschaftlichen Wissens ausgeht, kann bei ihm zwischen Glauben und
einem niemals apodiktisch-dogmatischen Wissen kein unversöhnlicher Gegensatz
bestehen. Der wissenschaftliche Weltentwurf beruht auf dem geschichtsnatürlichen
Verhältnis des Leibes zur Welt, was zu dem religionsphilosophischen Satz führt
in "Biologie der Logik" (S. 108), zu der religionskritischen Bemerkung: "Wir
haben nicht die Religion unserer Erkenntnis." Jede Form des Chiliasmus und
der die geschichtliche Entwicklung transzendierenden Utopie ist in dieser
religiösen Zukunftsbezogenheit ausgeschlossen.
Rütter betrachtet das Aufkommen „elementarer“, d. h.
anthropologisch gedeuteter Religion als „die dritte Reformation“, womit
er eine grundsätzliche Neuninterpretation des religiösen Phänomens selbst meint
(vgl. Kontinuum der Offenbarung, S. 212). "Das Christentum war bisher
eine geschlossene Religion. Die dritte Reformation verlangt die Öffnung
des Christentums für die Neubildungen der elementaren Religion, die sich sonst
ausserhalb der grossen Religionen ansiedeln." (l. c.)
Wie Rütter in seiner transzendentalphilosophischen
Konzeption der Leiblichkeit Kant verpflichtet ist, so hat auch seine
anthropologische, naturgeschichtlich-geschichtsnatürliche Deutung der Geschichte
in Kants ebenfalls anthropologischer Geschichtsphilosophie ihr Vorbild. Kant
stellt in Auseinandersetzung mit Rousseau den Gang der Kulturgeschichte als eine
Überlistung des Menschen durch die Natur an dar, wie in analoger Weise dann
Hegel von der List der Vernunft in der Geschichte spricht. "Das Mittel, dessen
sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen,
ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende
die Ursache einer gesetzmässigen Ordnung derselben wird" (Idee zu einer
allgemeinen Geschichte in weltbürgerlichen Absicht, vierter Satz).
Durch den seither ausgebildeten evolutionär-genetischen
Gesichtspunkt hat freilich die Anthropologie neue Dimensionen bekommen. Dennoch
ist es wichtig, sich den weit zurückführenden thematischen Ariadnefaden bewusst
zu machen. Dies gilt auch für Rütters sprachphilosophische Fassung seiner
Theorie des Organismischen. Schon zu Kants Zeiten lautete die Antwort auf die
Frage nach dem göttlichen oder natürlichen Ursprung der Sprache, dass mit ihr
die "natürliche Künstlichkeit" des Menschen erst gegeben sei - und damit
der Mensch. Das "persönlichste", bekenntnishafteste, Rousseau verwandteste Werk
Rütters, "Dialektik der Nacktheit" schliesst in seiner Motivik des
natürlichen Menschen, des wiedergeborenen "Adam", des zwischen Tier und
Gott gestellten "kentaurischen Wesens" vielfach an Philosopheme oder
Mythologeme der Renaissance an.
Rütter verleugnet nirgends seine Herkunft aus der vor allem
auch durch die pantheistische idealistische Naturphilosophie vermittelten alten
naturphilosophischen Tradition. Diese auf dem Boden heutiger Naturwissenschaft
weiterzuführen bedeutete für ihn eine grosse Anstrengung und ist eine
vorbildliche Leistung.